Wehe, es törnt dich an! – Weibliche Inszenierungen im Clinch

Etwas läuft schief mit dem Feminismus in den USA, zumindest in der Popmusik: Weibliche Superstars, die in Hitvideos erotisches Posing zelebrieren, gelten als Inbegriff der selbstbewussten, emanzipierten Frau. Wie gut, dass es Künstlerinnen gibt, die andere Frauenbilder dagegensetzen. Die interessantesten kommen aus Europa.

Vor nicht allzu langer Zeit in den US-Charts ganz oben: die Britin Florence Welch mit ihrer Band The Machine und dem Album „How Big, How Blue, How Beautiful“. Das Bemerkenswerte daran ist nicht so sehr die Musik , denn die verquickt recht konventionell Folk, Soul, Indie-, Synthi- und Stadionrock zu veritablen Ohrwürmern. Nein, das Bemerkenswerte sind die Videos, die die Songs begleiten. Immer wieder ist da die Sängerin zu sehen, wie sie blass, ungeschminkt und in Alltagsklamotten ringt, und das nicht nur mit Männern: Da wird umarmt, gestoßen, geschlagen gehadert, und nicht selten steht sich die Protagonistin – wie im Hit „Ship to Wreck“ – buchstäblich selbst im Weg oder rennt vor sich selbst davon. „Did I drink too much? Am I losing touch? Did I build this ship to wreck?“, heißt es dazu programmatisch in den Lyrics. Abwracken, Mist bauen, den Karren an die Wand fahren – Florence Welch zeigt bevorzugt Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Sicher nicht beabsichtigt und doch auf ganz prägnante Weise hat sie damit gerade in den amerikanischen Charts einen spannenden Kontrapunkt gesetzt: zu den Hochglanzvideos von Superstars wie Beyoncé, Nicki Minaj und Miley Cyrus – und zu dem Hype um die emanzipatorische Botschaft, den diese Videos angeblich transportieren. „Ich denke, dass ich zu den größten Feministinnen der Welt gehöre“, erklärte vor eineinhalb Jahren Miley Cyrus in einem BBC-Interview – und das, obwohl sie in ihren Videos verführerisch in Unterwäsche posiert oder auch mal völlig nackt auf einer Abrissbirne schaukelt und an Stahlteilen leckt. Ihre Begründung: „Ich vermittle den Frauen, dass sie vor nichts Angst haben müssen.“ Mit ihrer zeigefreudigen öffentlichen Inszenierung, zu der auch ein hochpeinlicher „Skandal“-Auftritt bei den MTV Awards gehörte, mag sich die junge Dame vielleicht von dem cleanen Teeniestar-Image emanzipiert haben, das sie als Hannah Montana in der gleichnamigen Disney-Serie etabliert hatte. Mit Feminismus aber, wie ihn die meisten kennen, hat das nichts zu tun.

Sexuell offensiver geht Nicki Minaj ans Werk. Selbst in nicht gerade als Mainstream bekannten deutschen Medien wird die schillernde Rapperin als wahre Feministin gefeiert – weil sie Tabus breche, Grenzen überschreite, ein selbstbewusstes „bad bitch“-Image zelebriere. Stephan Szillus in der „taz“: „Die New Yorkerin spielt in ihrem Image gekonnt mit sexuellen Identitäten und einem ironisch gebrochenen Ghetto-Chic. Mit ihren durchgeknallten Stylings, diversen Alter Egos und wilden Performances bietet die 31-Jährige tatsächlich so etwas wie ein Rollenvorbild.“ Klar, Nicki Minaj mag respektlos mit Samples umgehen, sich in ihren Raps als dominante, stolze „Schlampe“ inszenieren und nicht jugendfreie Geschichten von Drogenkonsum und promiskem Sex mit zwielichtigen Typen erzählen. Aber in den Videos dazu geht es stets um Nicki Minajs Körper – und vor allem um ihr auffälliges Hinterteil. Selbstbewusstsein heißt dann, in allen nur denkbaren erotischen Posen die eigenen körperlichen Vorzüge zu preisen. Die Tatsache, dass der Mann sie beim „Lap Dance“ im Video zu „Anaconda“ nicht berühren darf, als feministisches Statement zu feiern, wie es manche Kritiker tun, wirkt da arg bemüht – schließlich gehört das auch in den einschlägigen Bars jedes Rotlichtviertels zu den Regeln dieses Spiels. Denn vor allem geht es der Künstlerin ums Antörnen und um Umsatz.

Wie widersprüchlich die Botschaften von Frau Minaj letztlich sind, zeigt ein kurzer Vergleich des Videos zu „Anaconda“ mit dem Video zu „Lookin Ass“: In Ersterem wird die abfällige Bemerkung über Frauen mit „fetten Ärschen“ aus einem anderen Rapsong aufgegriffen und in ein positives Statement der Bewunderung aus Männerperspektive umgedeutet, à la: Seht euch diesen großartigen Hintern an, er macht jede Anaconda (i. e. das männliche Glied) wild. Der Blick wird also ganz bewusst auf Minajs auffälligstes Körperteil und auf die mit ihr durchs Video zuckenden „heißen“ Begleittänzerinnen gelenkt, was „Anaconda“ für das „Missy Magazine“ zur feministischen Hymne, „zur Big-Butt-Empowerment-Anthem des Jahres“, macht. Exakt diesem lüsternen Blick aber, symbolisiert durch ein männliches Augenpaar, wird im Video zu „Lookin Ass“ (übersetzt etwa: Hintern gucken) mit endlosen Maschinengewehrsalven wieder der Garaus gemacht – natürlich erst, nachdem minutenlang und in Zeitlupe sämtliche Körperrundungen der verführerisch in Spitzenunterwäsche gekleideten Künstlerin gezeigt wurden. Die seltsame Botschaft: Hey, ich drücke hier doch nur meine selbstbestimmte Sexualität aus – wehe, das törnt dich an!

Als massenkompatibler Inbegriff des feministischen Popstars wird dagegen R&B-Königin Beyoncé gefeiert. Was sie in den Augen vieler Rezensenten zur Ausnahmeerscheinung macht: Sie lebt in einer stabilen Beziehung mit ihrem Kollegen Jay-Z, ist Chefin ihres eigenen Unternehmens, hat immer wieder Songs über weibliche Selbstbehauptung im Programm, zitiert darin auch mal Feministinnen (wie die Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichie im Song „Flawless“), unterstützt im Charity-Bereich Bildungsprogramme für Frauen und inszeniert auch noch eine selbstbestimmte Sexualität – kurz: Sie ist die perfekte emanzipierte Kombination aus Ehefrau, Künstlerin, Chefin und Sexgöttin.

Tatsächlich steckt hinter Beyoncés Erfolg ein gnadenloses Leistungsprinzip, das viel mit Selbstdisziplin und Selbstverleugnung zu tun hat – Beyoncé ist schon lange so etwas wie die Heidi Klum des Soul. Was sie hier vorlebt, erscheint wie eine übermenschliche Anstrengung und dürfte kaum als Vorbild für die junge Frau von nebenan taugen – denn dieser stets perfekt geschminkte Spagat zwischen Karriere, Familie und Lust ist in der Welt, wie sie wirklich ist, kaum zu erreichen. Hinzu kommt, dass Beyoncé gerne brav erklärt, alles zu tun, um ihren Mann zu „pleasen“, und dass auch ihre angebliche „selbstbestimmte Sexualität“ ausgerechnet in Videobildern inszeniert wird, die an Rotlichtbar-Szenerien und Edelpornos erinnern. Die Liste ließe sich ergänzen durch Shakira und Rihanna, ebenfalls zwei US-Superstars, die ihre Karrieren selbst kontrollieren. Dafür gebührt ihnen allergrößter Respekt, ja wirklich. Aber zumindest mit Blick auf ihre Videos scheint diese Unabhängigkeit vor allem zu bedeuten, dass sie heute selbst entscheiden, sich als Sexobjekte inszenieren zu lassen – man denke nur an den auch mit lesbischen Vibes aufgeladenen Gemeinschaftsclip von Shakira und Rihanna zu „Can’t Remember to Forget You“.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Hier geht es nicht um Lustfeindlichkeit oder Prüderie. Eine selbstbestimmte erfüllte Sexualität ist ganz sicher für jeden Menschen erstrebenswert, und erotische Musikclips sind ja durchaus auch schön anzuschauen – wenn sie einem nicht ganz einfach wurscht sind. Nur fragt man sich, warum das ausgiebige Bedienen voyeuristischer Impulse so offensiv als Emanzipation verkauft wird. Warum die Spin Doctors der Musikindustrie so etwas vorgeben – und warum so manche Medien es nachbeten. In Europa scheint das alles weniger relevant. Natürlich werden auch hier junge Sängerinnen möglichst ansprechend und sexy inszeniert. Aber die erotische Leistungsschau amerikanischer Prägung bleibt weitgehend aus. Und: Neben Florence & The Machine gibt es weitere interessante Künstlerinnen, die in ihren Clips ganz andere, alltäglichere, düsterere Bilder von Weiblichkeit transportieren. Zum Beispiel die Newcomer-Rockband fon aus Leipzig. Deren Schwarz-Weiß-Video zum Song „YMMB – You Make Me Break“ zeigt Sängerin Katharina Helmke nackt, mit Erde und Farbe beschmiert, im Clinch mit einem ebenfalls nackten Mann. Aus den anfänglichen Zärtlichkeiten wird ein brutaler Kampf, eine Vergewaltigung wird suggeriert. Dann packt die Protagonistin einen Felsbrocken und schlägt wieder und wieder zu. Ob diese Rache wirklich ausgeführt wird oder eine Fantasie bleibt, ist unklar. Es ist ein Video, das bewegt, ohne irgendeinen Voyeurismus zu bedienen – die Nacktheit steht hier für Verletzlichkeit.

Die Meisterin der weiblichen Inszenierung in Popvideos ist und bleibt allerdings die Irin Roísín Murphy. Seit 2004 veröffentlicht die Exsängerin des Duos Moloko (größter Hit: „Sing It Back“) zu ihren Electronica-geprägten Soloalben Musikclips, in denen sie – fast wie die Fotokünstlerin Cindy Sherman – die unterschiedlichsten Frauenrollen durchspielt. Dagegen nehmen sich Nicky Minajs schrille Kostümwechsel wie Kinderfasching aus. Die kürzlich erschienene CD „Hairless Toys“ begleiten ein paar Videos, bei denen Murphy selbst als Regisseurin fungierte. In „Exploitation“ etwa gibt sie eine tablettensüchtige Theaterschauspielerin, in „Evil Eyes“ eine frustrierte Ehefrau und Mutter, die nach diversen rebellischen Akten in eine tiefe Depression verfällt. Weitere Markenzeichen von Murphy-Videos sind absurd unbequeme Kostüme und provozierend nachlässig getanzte Choreographien mit seltsamen Bewegungselementen, die den Perfektionismus, den Glamour und den künstlichen Sex-Appeal popindustrieller Spitzenproduktionen unterwandern.

Interessant vor diesem Hintergrund ist, dass gerade mit „Seht mich verschwinden“ Kiki Allgeiers Dokumentation über den Tod des Magermodels Isabelle Caro in den Kinos lief. All das sind Gegenbilder zu den amerikanischen Hochglanzinszenierungen weiblicher Superstars. Und so ist es auch kein Wunder, dass eins der krassesten „Frauenvideos“ der letzten Zeit ebenfalls aus den USA kommt. Es heißt „Tiff“, stammt von dem Bandprojekt Poliça aus Minneapolis und beschreibt, so Sängerin Channy Leaneagh, „eine Frau, die sich selbst der größte Feind ist“. Und das buchstäblich: Die Sängerin/Protagonistin sitzt gefesselt in einem Kellerverlies und wird von ihrer Peinigerin – es ist sie selbst – zu Klump geprügelt. Abstoßend, blutig, kaum zu ertragen.

Keine dieser Künstlerinnen bezeichnet sich als feministisch. Es wäre ja auch fatal, wenn sich Feminismus heute im Zur-Schau-Stellen von Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs erschöpfen würde. Aber es ist gut, dass es auch Alternativentwürfe zu den cleanen weiblichen Superstar-Pin-ups gibt. Und diese Alternativentwürfe können durchaus auch positiv inspirierend sein. Bestes Beispiel ist die amerikanische Sängerin, Tänzerin und Labelbetreiberin Janelle Monáe: Völlig ohne Erotikbrimborium besticht sie durch ein unglaubliches musikalisches Spektrum von Soul bis Rock, von Latin bis Elektronik, durch fantastische Tanzvideos („Tightrope“, „Q.U.E.E.N“) und durch positiv verrückte Albumkonzepte, die um eine Androidin namens Cindi Mayweather kreisen. Man wünscht sich mehr solcher Popkünstlerinnen aus Amerika.

Amy authentisch?

Entziehungskur? Ach nö! Aber vielleicht wollte Amy Winehouse in Rehab ja etwas ganz anderes sagen… Gedanken zum Kinostart von Asif Kapadias Dokumentarfilm Amy

Seit Jahrzehnten gibt es zwei entgegengesetzte Meinungen über Songs: Der einen Meinung nach ist ein Song unmittelbarer Ausdruck der persönlichen Empfindungen des Menschen, der ihn geschrieben hat. Der anderen Meinung nach sind Songs etwas Künstliches – etwas, das vor allem von der Bearbeitung, von der Manipulation lebt. Aktuell sieht man beide Meinungen wieder wunderschön aufeinandertreffen. „Das rote Album“ wird die brandneue Songkollektion der deutschen Band Tocotronic genannt, weil sie einfach mit einem leuchtend roten Cover versehen wurde. Rot ist natürlich die Farbe der Liebe, so weiß der Volksmund, und dazu passt ganz vortrefflich, was inzwischen hinreichend in Pressemitteilungen und Medien kolportiert wurde: dass Tocotronic ein Album über die Liebe gemacht haben.

Die Liebe – eins der ganz großen Gefühle. Klarer Fall, folgert augenzwinkernd Nina Sonnenberg, Moderatorin der 3sat-Reihe „Kulturpalast“: Das muss sich Songschreiber Dirk von Lotzow doch direkt von der eigenen Seele geschrieben haben. Also fühlt sie dem Tocotronic-Mann in der „Kulturpalast“-Sendung vom 4. Juli mächtig auf den Zahn. Doch von Lotzow wiegelt ab: „Ich bin niemand als Autor, der aus Situationen heraus schreibt, und deshalb kann ich auch immer schlecht auf diese Fragen antworten: Schreibst du besser, wenn du glücklich bist oder wenn du unglücklich bist? Das ist eigentlich Authentizitätsquatsch!“ Für ihn hat Songschreiben rein gar nichts mit Herzausschütten zu tun: „Es geht ja nicht so sehr darum, was man selber fühlt“, erklärt er, „sondern dass man etwas macht, was bei den Leuten, die es hören, eine ästhetische Erfahrung oder so was auslöst – dass die was dabei fühlen. Was ich selber dabei gefühlt habe, ist ja unerheblich.“

Aber die Moderatorin lässt nicht locker. „Und trotzdem wirkt das ja alles sehr authentisch, was du schreibst“, hakt sie nach. Und als der Autor ebenso händeringend wie augenrollend nach Worten sucht, fragt sie schelmisch: „Lügst Du uns an?“ Da muss der Tocotronic-Frontmann dann doch mal lachen, und es platzt aus ihm heraus: „Nein, aber das sind Popsongs!“ Was für ihn heißt: „Popmusik ist grundsätzlich nicht authentisch. Das ist ein Kunstprodukt. Das ist eine künstlerische Äußerung, das kann gar nicht so authentisch sein. Ich fände es schon total bescheuert, wenn man ein Album über Liebe machen würde, und es wäre nicht romantisch. Aber es muss ja bei den Leuten, bei den Hörerinnen und Hörern, diese Gefühle auslösen. Und um diese Gefühle auslösen zu können – das ist die Grundidee von Popmusik – muss man die ganz nüchtern behandeln.“

Wham!, das hat gesessen. Welche Meinung über Songs Tocotronic vertreten, dürfte klar sein. Das andere Extrem begegnet uns aktuell in Gestalt von Asif Kapadia. Er ist Filmregisseur, wurde mit einer Dokumentation über den Rennfahrer Ayrton Senna bekannt und bringt jetzt, am 16. Juli, Amy in die deutschen Kinos. Amy ist ein Porträt der 2011 verstorbenen britischen Soulsängerin Amy Winehouse und wird vorab von den Medien hochgelobt. Dem Regisseur soll es um den Punkt gehen, an dem die Karriere des zuletzt von Alkohol und Drogen gebeutelten Stars ins Tragische kippte. In unserem Zusammenhang von Bedeutung ist die Tatsache, dass der Film immer wieder Auszüge aus den Songlyrics von Amy Winehouse einblendet – ganz offenbar weil der Regisseur diese Lyrics als so etwas wie Tagebuchauszüge begreift. So antwortet Kapadia in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift „epd film“ auf die Frage, ob die Entscheidung für das Einblenden der Lyrics erst in der Postproduktion fiel: „Oh nein, dazu entschied ich mich ziemlich früh. Denn wer die Texte liest, versteht Amys Leben. Das war wirklich das Einzige, worüber sie geschrieben hat. Viele Fans haben womöglich nie darüber nachgedacht, dass sie all das selbst verfasst hat. Aber alles, was man wissen muss, findet man in ihren Songs. Für einen Moment hatte ich gedacht, dass es vielleicht überflüssig ist, die Lyrics auch tatsächlich einzublenden. Doch sobald man sie weglässt, fängt man als Zuschauer an, den Kopf im Takt der Musik zu bewegen und mehr der Melodie als dem Text zu folgen.“

Nach dieser Auffassung scheint die Musik eines Songs – der Rhythmus und die Melodie, der Sound, die ganze Atmosphäre – nur zweitrangig zu sein und vom Wesentlichen, dem Text als authentischem Gefühlsausdruck, abzulenken. Da möchte man sich beinahe fragen, warum Amy Winehouse nicht einfach nur Gedichte oder einen Lebensbericht veröffentlicht hat… aber egal. Wichtiger ist die Frage, ob man die Songs von Amy Winehouse, und so viele sind es ja nicht, tatsächlich auf so etwas wie ihren autobiografischen Gehalt festlegen, ja reduzieren kann. Ich bin zumindest skeptisch. Schon als Udo Jürgens von seinem Bruder, dem Maler, sang, hatten sich in den scheinbar autobiografischen Textrahmen – sein Bruder ist tatsächlich ein angesehener Maler – kleine Details eingeschlichen, die so gar nicht der Realität entsprachen. Zum Beispiel war in den Lyrics die Rede davon, dass der Bruder Clowns male, dabei malt der Bruder alles, nur keine Clowns. Und so bin ich sicher, dass sich in fast jedem berühmten Lied, dem man eine große Nähe zwischen Song-Ich und biografischem Ich nachsagt, solche kleinen Detailveränderungen festmachen lassen, zumindest aber Verdichtungen und Zuspitzungen eines Gedankens, der weit über das vordergründige Songthema hinausgeht. Das vordergründige Thema ist dann eher so etwas wie ein Ablenkungsmanöver, eine Blendrakete.

Stichwort Rehab – der 2008 mit diversen Auszeichnungen überschüttete Superhit von Amy Winehouse. „They tried to make me go to rehab / But I said ey no, no, no“, heißt es da einprägsam und: „I ain’t got the time / And if my daddy thinks I’m fine / They tried to make me go to rehab / I won’t go, go, go.“ Also: „Sie haben mich gedrängt, einen Entzug zu machen, / aber ich habe gesagt: Nein, Nein, Nein (…) Ich hab keine Zeit, / Und wenn mein Vater denkt, es ist halb so schlimm… / Sie haben mich gedrängt, einen Entzug zu machen, / ich werd nicht geh’n, nein, nein.“ Man musste nur die Medien-Sensationsberichte der Jahre 2007 bis 2010 verfolgen, um zu sehen, wie nah der Text am wirklichen Leben der mit einer Ausnahmestimme gesegneten Interpretin zu rangieren schien. Es ging ganz offensichtlich um deren nicht von der Hand zu weisende Rauschmittelsucht, um peinliche Auftritte im benebelten Zustand, den Vater, der das Problem verharmloste, oder das Management, das wiederholt versucht haben soll, die Künstlerin zu einem Entzug zu bewegen. Nicht nur aktuell bei Asif Kapadia, sondern schon seit Songerscheinen ist in Internetforen und Zeitungsartikeln von einem „autobiografischen Song“ die Rede. Zum Beispiel auf der Website von Jochen Scheytt, der unter der Rubrik „Popsongs und ihre Hintergründe“ erschüttert feststellt, dass sich „die renitente Aussage des Refrains durch den ganzen Song“ ziehe. Nach erschreckenden Statistiken zum Thema Drogenmissbrauch und wenig erhellenden Kommentaren zu den Lyrics kommt Scheytt zu dem Schluss: „Man wünscht sich, dass die Einsicht noch kommen möge. (…) Ich wünsche mir einen Songtext von Amy Winehouse: ‚I really wanna go to rehab, I wanna go, go, go!’“

Die Songaussage auf die Ablehnung eines Entzugs durch die reale Person Amy Winehouse zu reduzieren, wird dem Stück, wie ich finde, nicht gerecht. Auch macht das Gerede vom autobiografischen Song hier mehr aus dem Ganzen, als es eigentlich ist. Denn Autobiografie ist die Beschreibung des eigenen Lebenslaufs, gespickt mit Reflexionen und persönlichen Einschätzungen – und davon kann in Rehab keine Rede sein. Das Stück ist äußerst redundant – sein Text lebt im Wesentlichen von wenigen ständig wiederholten Versen und ist mitnichten eine reflektierende Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte oder auch nur eines Teils davon. Zum Beispiel wird weder die Heroinproblematik noch der ebenfalls suchtkranke Ehemann der Sängerin, der sowohl in ihrem Leben als auch in den Berichten der Boulevardmedien keine unwesentliche Rolle spielt, auch nur ansatzweise thematisiert. Wollte man den Lyrics nun unbedingt eine allgemeinere Aussage unterstellen, dann vielleicht die, dass sie eine typische Haltung von Alkoholkranken widerspiegeln: Verleugnung und Verdrängung des Problems.

Aber auch das scheint mir ziemlich weit hergeholt.

Da klingen die abschließenden Verse des Stücks schon etwas aufschlussreicher: „The man said, why’d you think you’re here? / I said, I got no idea / I’m gonna, I’m gonna lose my baby / So I always keep a bottle near.“ Übersetzt: „Der Mann fragte mich: Was glauben Sie, warum Sie hier sind? / Ich sagte: Keine Ahnung / Mein Schatz, mein Schatz wird mich verlassen / Also habe ich immer eine Flasche in Reichweite.“ Einsamkeit ist also der Schlüssel, was durch Zeilen wie: „I don’t never wanna drink again / I just, oooh, I just need a friend“ untermauert wird: „Ich will nie wieder trinken, / ooooh, ich brauche einfach einen Freund.“ Nicht unbedingt um ein konstantes Alkoholproblem geht es also in dem Song, sondern eher um Einsamkeit und um Verlustangst, um Gefühle, die vorübergehend zu exzessivem Alkoholgenuss führen – und die Umgebung des Song-Ichs veranlassen, falsche Schlüsse zu ziehen. Nicht die Entzugsklinik wäre demnach die Lösung, sondern ein Ende der Einsamkeit: Geborgenheit und Nähe.

Aber das ist noch nicht alles: Etwa in der Mitte des Stücks gibt es eine weitere Passage, die die Interpretationsansätze noch einmal in eine ganz andere Richtung treibt: „I’d rather be at home with Ray / I ain’t got 70 days“, heißt es da und: „’Cause there’s nothing, there’s nothing you can teach me / That I can’t learn from Mr. Hathaway.“ – „Ich bleib lieber zu Hause mit Ray / Ich habe keine 70 Tage Zeit / Denn da gibt es nichts, was ihr mir beibringen könnt, / das ich nicht auch von Mr. Hathaway lernen kann.“ Mit Ray und Mr. Hathaway sind vermutlich die schwarzen Soulstars Ray Charles und Donny Hathaway gemeint. Ihnen schreibt das Song-Ich eine Lebenserfahrung und eine Weisheit zu, die keine Schulbildung, keine Therapie, kein Entzug vermitteln können. Ray Charles hatte zwar ein Heroinproblem, das er nach einer Entziehungskur überwand, aber Donny Hathaway litt vor allem an Depressionen und war mehrmals in stationärer psychiatrischer Behandlung, bevor er aus dem Fenster in den Tod sprang. Auch angesichts der Tatsache, dass das Song-Ich einen Entzug ablehnt, während Charles eine solche Kur absolvierte, kann das Suchtthema nicht der Grund für den Hinweis auf Ray und Hathaway sein. Vielmehr scheint es um eine Hommage an die große Zeit der schwarzen Soulmusik und ihre durch sämtliche Höhen und Tiefen des Lebens gegangenen Protagonisten zu gehen. Das unterstreichen der packende Rhythmus des Songs und seine wuchtige Soundproduktion, die den Soul der fünfziger und sechziger Jahre beschwört und ins 21. Jahrhundert hinüberholt.

In dieser Hommage und im Thema Einsamkeit, an dem sich auch die Soulmusik immer wieder auf einzigartige Weise abarbeitet, liegt meiner Meinung nach das eigentliche Zentrum von Rehab. Klar gibt es Themen und Motive, die an das wirkliche Leben der Künstlerin erinnern. Trotzdem geht es nicht in erster Linie um ein persönliches Statement der Privatperson Amy Winehouse, die möglicherweise nicht gewillt ist, dem Druck der Öffentlichkeit nachzugeben und endlich ihre Sucht zu akzeptieren. Nein, in erster Linie geht es um eine Huldigung an den Geist der Soulmusik. Die Aufforderungen an das Song-Ich, eine Entziehungskur zu machen, sind nur ein drastisches Bild für dessen Einsamkeit und für das Unverständnis, das mangelnde Einfühlungsvermögen der Menschen in seiner Umgebung. Damit bilden auch bei Amy Winehouse vereinzelte persönliche, autobiografische Elemente lediglich den Aufhänger für eine übergreifende Songbotschaft, die ganz anders gelagert ist, als es vordergründig erscheinen mag – und als es eine sensationsgierige Öffentlichkeit gerne hätte. Rehab ist kein Authentizitätsquatsch, sondern ein klasse gemachtes Kunstwerk mit mehreren Ebenen. Dirk von Lotzow würde sagen: „Rehab macht etwas, was bei den Leuten, die es hören, eine ästhetische Erfahrung auslöst. Was Amy Winehouse selber dabei gefühlt hat, ist unerheblich.“ Man darf gespannt sein, inwieweit Asif Kapadias Doku Amy auch solchen Songaspekten Rechnung trägt.

Skrätsch mei Bräin: Vom ESC zu Wooden Peak und Der Axiomator

Ich bleibe dabei: Der Eurovision Song Contest ist eine Veranstaltung aus einem Paralleluniversum. Das fängt an beim immergleichen artifiziellen Musikmix aus Boller-Dancefloor, bombastischem Schnulzenpathos und Folkloreelementen, geht weiter über die bizarren modischen und choreografischen Geschmacksverirrungen bei Künstlern, Jurymitgliedern und Moderatorenteams und hört noch lange nicht auf bei den mal leicht, mal schwer zu durchschauenden Dynamiken der Punktevergabe. Immerhin springt ab und an ein wirkungsvolles Statements für Toleranz, für Frieden und für Völkerverständigung heraus, weshalb ich mich nicht groß beschweren will.

Dass der deutsche Beitrag 0 Punkte erreichte, liegt meines Erachtens nur daran, dass er viel zu bodenständig aus unserer realen Welt in das ESC-Paralleluniversum hinübergroovte – dass er schlichtweg nicht in diese künstliche Welt mit ihren ganz eigenen Zuckerguss- und Wir-haben-uns-alle-lieb-Regeln passte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der eigentlich vorgesehene Problembär Andreas Kümmert gesungen hätte – dem hätte man womöglich noch 2 x 12 Minuspunkte zusätzlich aufgebrummt.

Wie schön, sich einfach wieder Künstlern zuzuwenden, die Musik machen, weil sie etwas ausdrücken möchten – und nicht um bei einem Wettbewerb möglichst gut auszusehen. Es müssen auch gar keine internationalen Topacts sein. Hin und wieder erreichen mich Songtipps aus der lokalen Szene oder aus anderen deutschen Regionen, die sich durchaus hören lassen können. Zum Beispiel von Wooden Peak, einem Leipziger Duo, das jetzt nach mehreren feinen EPs in etwas größerer Besetzung produziert. Introvertiert klingen sie und ein wenig kammermusikalisch – ihre langsam dahingroovenden Songs mit eindringlichen Vocals entwickeln einen schlafwandlerischen Sog. Im Video zu MS Goodman von der neuen EP Polygon sind seltsame Menschen in einem altehrwürdigen Amtszimmer in seltsame Interaktionen verstrickt – was genau sie da machen, bleibt unklar. Das Unwirkliche dieser Szenen wird visuell unterstrichen durch behutsame Loop- und Scratch-Effekte – die Bildsequenzen laufen kaum merklich immer wieder vor und zurück. Musik und Videos von Wooden Peak finde ich wirklich beeindruckend.

Videoscratching bestimmt auch den smarten kleinen Film, den Der Axiomator aus dem Raum Frankfurt für seinen mindestens ebenso smarten Track Hirn produziert hat. Passend zum Titel wirkt die visuelle Umsetzung hier herrlich debil. Hinter dem Axiomator steckt ein positiv Verrückter mit einem Faible für hintergründig verspielte Texte. „Willst du mal nen Tipp / Dann tipp dir an die Stirn / Denn da wird etwas vermisst / Ja, man nennt es Hirn“, rappt er flüsternd vor der Frankfurter Skyline über einem geheimnisvollen elektonischen Groove, garniert mit allerhand Soundeffekten. Das hat etwas von einem witzigen Novelty-Song und eignet sich nicht nur zum persönlichen Vergnügen, sondern auch als geschmackvoll dezenter Hinweis an Zeitgenossen, die einem gehörig auf den Senkel gehen – von mir aus auch als Kommentar zum völlig irrationalen ESC-Gedöns.

Hirn ist zu finden auf der programmatisch betitelten EP Erste Störsignale, die mit Hacky der Hacker samt Remix-Version in ähnliche musikalische Kerben haut. Der Kraftwerk-Einfluss ist auch spürbar auf dem Track Entlang der Straße, einem ansatzweise dramatischen Elektronik-Instrumental, das mich auf lange Sicht am stärksten beeindruckt. Wooden Peak und Der Axiomator werden vermutlich nie an einem ESC-Finale teilnehmen, geschweige denn an einem nationalen Vorentscheid. Und das ist auch gut so.

Musik nach Maß: Über die fieberhafte Suche nach dem perfekten Popsong und dem garantierten Hit

Was macht eigentlich einen perfekten Popsong aus? Und wie landet man einen todsicheren Hit? Diese beiden Fragen sind zwar nicht so alt wie die Menschheit, aber mindestens so alt wie die Musikindustrie. Und gerne werden sie munter miteinander vermischt. Frei nach dem Motto: Wenn ein Song ein Hit wird, dann muss er doch irgendwie perfekt sein. Entsprechend oberflächlich wirken Internetforen, die regelmäßig „Bester Popsong aller Zeiten“-Votings veranstalten. Natürlich geht es dabei nicht um echten Erkenntnisgewinn, sondern vor allem um Traffic auf dem Portal. Und so bieten die User-Antworten selten mehr als eine bunte Ansammlung von nicht weiter begründeten persönlichen Geschmacksäußerungen. Es bleibt ein netter Anlass zum Smalltalken, und wer Kontakte sucht, bekommt vielleicht einen Hinweis auf Mitmenschen, die musikalisch auf derselben Wellenlänge liegen.

Schon etwas ernster wird das Thema unter Musikjournalisten angegangen. Hier herrscht allerdings ein Misstrauen gegenüber Hitsongs vor: Denn was kommerziell enorm erfolgreich ist, kann doch nicht wirklich „gut“, geschweige denn ästhetisch vollkommen sein. Für die Mehrheit der Fachleute hat der perfekte Popsong weniger mit Chartstauglichkeit als mit emotionaler Wucht, mit kompositorischer Raffinesse oder einzigartigen Vortragsqualitäten zu tun. Die Analyse der Arbeit von Singer/Songwritern, von Rock- und Soul-Künstlern wird dann gern zur Suche nach dem Heiligen Song-Gral stilisiert. Damit unterstreichen Kritiker zum einen die Qualität der von ihnen gefeierten Künstler, zum anderen die Wichtigkeit ihres eigenen journalistischen Treibens. Dass natürlich auch hier der persönliche Geschmack zu den wichtigsten Motoren der Autorinnen und Autoren gehört, wird meistens elegant verschleiert.

Immerhin wird von der Fachwelt neben den Beatles so wunderbaren Institutionen wie Elvis Costello und Prefab Sprout die Fähigkeit bescheinigt, „ideale Lieder“ zu schreiben. Womit wir bei den Künstlern selbst wären. Irgendwo zwischen unmittelbarer Euphorie und zielstrebiger Rationalität, meist auch intuitiv nehmen sie den natürlichen Wettstreit um die besten musikalischen Ergebnisse an – immer getrieben von der Ambition, einen nicht nur ansprechenden und bewegenden, sondern auch in Aufbau und Arrangement rundum gelungenen Song zu fabrizieren. Einen schönen Beleg liefert das Interview, das die Zeitschrift „GALORE“ 2008 mit dem ABBA-Komponisten Björn Ulvaeus führte:

Mr. Ulvaeus, was wäre der in Ihren Ohren perfekte Popsong?
Björn Ulvaeus: (überlegt) „When You Walk In The Room“ von Jackie DeShannon ist jedenfalls nahe dran. Da stimmt nahezu alles, dabei war die Nummer ursprünglich nur eine B-Seite und wurde auch erst durch die deutlich schwächere Searchers-Version zum Hit.
Was fühlen Sie bei diesem Song?
Ganz ehrlich? Neid! Puren Neid! (lacht) Seit ich dieses Lied Anfang der Sechziger zum ersten Mal gehört habe, denke ich: Verdammter Mist, warum ist nicht mir das eingefallen? Es ist so unglaublich schwerelos und erhebend, dass nicht einmal „Mamma Mia“ oder „S.O.S.“ mitkommen.“
Ihnen selbst ist das perfekte Lied also noch nicht gelungen?
Wir waren ein paar Mal nahe dran, denke ich, aber ich würde das niemals behaupten. Obwohl: Ich saß vor einigen Jahren mal in einem New Yorker Restaurant, als plötzlich Pete Townshend an meinen Tisch trat und meinte: „Ich wollte Ihnen nur eben sagen: ‚S.O.S.’ ist der beste Popsong, der jemals geschrieben wurde.“

Ulvaeus und der von ihm erwähnte Pete Townshend, Kopf der mindestens ebenso „legendären“ britischen Rockband The Who, sind nur zwei von Tausenden von Songschreibern, die mit ihren Stücken richtig viel Geld verdient haben. Das ruft natürlich eine weitere Sparte von Akteuren auf den Plan – die Ratgeberfraktion. Die durchforstet die Hits vergangener Jahre und Jahrzehnte mit dem Ziel, so etwas wie charakteristische Strukturen, wenn nicht gar die Formel für den kommerziell erfolgreichen Song zu entdecken. Und wenn es schon nicht für den eigenen Nummer-eins-Hit reicht, versucht man eben wie Rikky Rooksby mit der How to Write Songs-Serie, seine Erleuchtungen in Buchform zu Geld zu machen.

Oder man lässt andere großzügig kostenlos davon profitieren – zum Beispiel über Internetplattformen wie „suite.io“ und „Taxi,com“. „Suite“ gibt in Yogesh Bakshis Beitrag „How to write a hit pop song“ Tipps zu Tempo, Beat oder Storyline und verrät in konspirativem Ton, dass die ideale Länge für ein Song-Intro exakt 13 Sekunden betrage.
Alle Achtung, auf diese Info haben Heerscharen erfolgloser Songschreiber natürlich schon Jahrzehnte gewartet!

In der „Songwriting“-Rubrik von „Taxi“ wiederum finden sich ungemein hilfreiche Kompositionsempfehlungen wie „The best way is to constantly and persistently study what hit songwriters do“ („Der beste Weg ist, immer wieder gründlich zu studieren, wie Hit-Songschreiber vorgehen“) sowie Links zu weiterführenden Beiträgen. Allein deren Titel beflügeln die Fantasie und versprechen nicht nur jede Menge Spaß, sondern lassen auch von unmittelbarem Superstartum träumen: „The 5-Minute Songwriting Class“, „A Good Melody Is Like Sex“, „Chorus Construction“, „Ten Tips for Building Stronger Songs“ oder „Teaching an Old Dog New Tricks“.

Und dann sind da noch die Hardcore-Wissenschaftler, die glauben, dass sich das Wesen der Musik zumindest im Ansatz softwaretechnisch bestimmen lässt. Die Rede ist von echten Forschertypen wie Frank Riedemann, der in dem Essayband Black Box Pop über „Computergestützte Analyse und Hit-Songwriting“ referiert. Euphorisch beschreibt er, wie er 57 Hits aus den deutschen Single-Jahrescharts der Jahre 2000 bis 2005 und diverse – Achtung! – „Non-Hits“ aus demselben Zeitraum auswählte und wie diese „auf Grundlage des Notentextes in ein computerlesbares Format kodiert und in die vom Autor entwickelte Analysesoftware Essencer eingegeben“ wurden. Entscheidend für die Untersuchungsergebnisse waren so exotische Variablen wie der „erste Einsatzzeitpunkt des ersten Chorus“, die „systemische Redundanz der Melodiephrasen im Chorus“, die „Vorkommenshäufigkeit von prominenten kompositorischen Strukturprinzipien“ wie „Melidents“, „Sequenzierung“ und „Intchanges“ oder die „Dichte syntaktisch-morphologischer Figuren im Songtext“. Von den Resultaten ist Riedemann regelrecht begeistert: „Ungeachtet der Tatsache, dass die vorgestellten Variablen nur einen kleinen Auszug aus der Vielzahl möglicher musik- und textimmanenter Gestaltungsmerkmale darstellen“, schreibt er, „lässt sich bereits hier mittels einer binär-logistischen Regression die Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit der Songs zu den Kategorien Hit und Non-Hit in Abhängigkeit dieser Variablen als Einflussgrößen berechnen.“
Omagawd…

Allerdings, so Riedemann: „So beeindruckend dieses Ergebnis aufgrund der fehlerfreien Klassifizierung auf den ersten Blick zu sein scheint – es wird nicht der Komplexität musik- und textimmanenter Gestaltungsmerkmale von Hitsongs gerecht.“

Oha…

Zu einer ähnlichen Einschränkung gelangt auch der Bonner Musikprofessor Volker Kramarz, wenn er im Januar 2015 im Interview mit dem „Express“ bekennt: „Trotz aller Formeln ist ein Hit harte Arbeit, braucht gute Ideen, tolle Sänger, schöne Melodien – und ein bisschen Glück.“ Dennoch setzt auch Kramarz Computertechnologie ein, um seine Thesen zum Hiterfolg bestimmter Songs zu untermauern: nur eben nicht zur Auswertung der Musik, sondern zur Bestimmung des Hörerverhaltens. Klingt kompliziert, ist aber ganz simpel: Schon seit Jahren betreibt Kramarz Kompositionsanalysen und will in der Folge mehrere Hitformeln ermittelt haben. Von diesen „Pop-Formeln“ sei der sogenannte „Turnaround“, die Akkordfolge C-Dur/a-moll/F-Dur/G-Dur, die erfolgreichste. In seinem aktuellen Buch Warum Hits Hits werden: Erfolgsfaktoren der Popmusik beschreibt Kramarz nun, wie er freiwilligen Probanden im Magnetresonanz-Tomografen (MRT) Hits vorgespielt und ihre Hirnaktivität gemessen hat. Seine bahnbrechende Erkenntnis: „Dabei konnten wir ganz klar feststellen, dass Songs mit den Pop-Formeln bei jedem Menschen das Belohnungssystem im Gehirn aktivieren.“

Potztausend!

Aber ist das nun wirklich eine bahnbrechende Erkenntnis? Ist es nicht eher in etwa so, als würde man einem eingefleischten Frankfurter abwechselnd Grüne Soße und Reisnudeln zum Verzehr vorsetzen, um sogleich euphorisch festzustellen, dass er auf die Grüne Soße erst mal stärker reagiert? Dass er sich aber über Jahrzehnte hinweg bei der Riesenauswahl an Gerichten immer und immer wieder für die Grüne Soße entscheiden würde, wäre damit überhaupt nicht bewiesen. Oder, anders ausgedrückt: Wenn ein Song einer vertrauten Formel folgt, bedeutet das noch lange nicht, dass er ein Hit wird – man denke nur an die Millionen von Allerweltssongs, die es nicht eben in die Charts schaffen. Im Gegenteil: Ist es nicht oft gerade das Neue, Nichtvertraute, Überraschende, das Interesse weckt und einen Song in die weltweiten Hitparaden katapultiert?

Entscheidende weitere Faktoren für den Erfolg eines Songs – etwa Timbre, Sound oder Studioeffekte, das Image, die Performance und nicht zuletzt das Künstlermarketing – lässt der Musikprofessor gleich gänzlich außer Acht – aber Hauptsache, seine Darstellung mutet wissenschaftlich an. Schließlich haben Computermessungen etwas „Empirisches“!
Wir wissen nicht, was Frank Riedemann und Volker Kramarz beim Hören von Musik empfinden. Genauso wenig wissen wir, ob es unter Nutzung der „Essencer“-Software oder Anwendung von Pop-Formeln jemals irgendwem gelungen ist oder gelingen wird, die Charts zu stürmen. Zumal ausgerechnet diejenigen, die am lautesten behaupten, den Schlüssel zum großen Songerfolg zu haben, selber nichts an Songerfolgen vorzuweisen haben. Der Gedanke, Musik nicht nur messen und auswerten, sondern auch auf kommerzielle Durchschlagskraft hin durchdesignen zu können, engt nicht nur die musikalische Praxis, sondern auch das Publikum maßlos ein: Die musikalische Praxis ist zum einen kulturell geprägt, zum andereren entwickelt sie sich wie die Gesellschaft, wie die Technik ständig weiter. Und: Jede Hörerin, jeder Hörer reagiert auf Musik anders, abhängig von der individuellen Befindlichkeiten, den jeweiligen musikalischen Vorkenntnissen und Erfahrungen.

Mein Fazit: Musik ist ein eigenes Zeichensystem und in dieser Eigenschaft nicht wirklich greifbar, Musik ist ständig im Fluss. So wie Sprachcomputer weder einen fremdsprachlichen Text angemessen übersetzen (man lasse sich nur mal spaßeshalber im Internet einen fremdsprachlichen Lexikoneintrag ins Deutsche übertragen) noch adäquat auf die unterschiedlichsten Sprechsituationen reagieren können, so ist auch die Idee eines perfekten Popsongs oder eines garantierten Hits letztlich eine Illusion. Denn am Ende bleibt mit Blick auf die Musik, wie der Rockkritiker Richard Meltzer einmal formulierte, nur eine durch das Zusammengehen von Text, stimmlichem Ausdruck, kompositorischen Mitteln und Sound aktivierte „unknown tongue“, eine unbekannte Sprache.

Was Tüftler nicht dran hindert, Musik auch weiterhin computertechnisch zu untersuchen. Der neueste Schrei: Musikinformatiker von der Queen Mary University of London haben 17.094 Hits aus den Top 100 der USA mit Methoden der Evolutionsforschung untersucht. Mittels einer entsprechenden Software fanden sie heraus, dass es in den letzten knapp 60 Jahren lediglich drei Zeitpunkte gab, an denen sich die Zusammensetzung der Charts – und damit der Musikgeschmack – grundlegend veränderte: 1964, 1983 und 1991. Anders ausgedrückt: In den 1960er Jahren setzten Rock und Soul neue Akzente, in den 1980er Jahren New Wave und Elektronik, in den 1990er Jahren Hip-Hop.

Ja wow!

Evolutionstheorie und Computerprogramme – das wirkt schon wahnsinnig wissenschaftlich und ungewöhnlich. Aber mal ehrlich: Hätten die engagierten Forscher nicht einfach mal die Ohren aufsperren können? Hat es für ihre banale Erkenntnis wirklich eines kostspieligen Forschungsprojekts bedurft?

Die Pose geht, der Song bleibt: Diedrich Diederichsens „Über Pop-Musik“

Oje, zögernd erworben, mühsam durchgebissen: Diedrich Diederichsens schon im letzten Jahr veröffentlichter Diskursschinken Über Pop-Musik musste dann doch mal gelesen werden. Die Befürchtungen haben sich bestätigt. Leider ist der ganz überwiegende Teil der rund 450 Seiten langen Abhandlung, in der der ehemalige „SPEX“-Chefredakteur seine über 30-jährige Tätigkeit auf dem Feld der Pop-Theorie kulminieren lässt, ein schwer verdauliches Theoriegedöns. Ein seltsamer Mix aus akademischer Abhandlung, jovialem Geplänkel, erst beim vierten Lesen nachvollziehbaren Gedanken und Szenetalk – so unsinnlich las sich bisher kaum ein Buch über den mehr als sinnlichen Gegenstand Pop.

Adornos Geist und Posen von Exoten

Schon der Buchtitel, Über Pop-Musik, irritiert. Hatte nicht Theodor W. Adorno, der Chefideologe der Frankfurter Schule, vor gefühlt 300 Jahren zwei umstrittene Aufsätze On Popular Music und Über Jazz überschrieben? Tatsächlich weht der Geist Adornos deutlich spürbar durch Diederichsens poptheoretische tour de force – von der Weiterführung des Adorno’schen Kulturindustrie-Begriffs (ja, wir leben heute bereits in der dritten Kulturindustrie) bis hin zur Verteidigung von Über Jazz, einer seinerzeit heftigst kritisierten Schrift, die doch immerhin, so Diederichsen, bei aller Fehleinschätzung das für das Pop-Subjekt wegbereitende Jazz-Subjekt treffend charakterisiert habe: „Das Besondere am Jazz als eine spezifische Fassung von Subjektivität zu beschreiben, ist eine gute Idee. Dass im Jazz schon die Frage steckt, was ist das für ein Typ, der da spielt, die in der Pop-Musik manifest werden sollte…“ Im 21. Jahrhundert, in Zeiten von Globalisierung und theorieskeptischer Unübersichtlichkeit, hält Diederichsen 80 bis 100 Jahre alte Denkmodelle hoch – ja stellenweise möchte man in ihm fast eine moderne Reinkarnation Adornos sehen.

Pop-Musik ist für den Autor ein völlig „eigener Gegenstand“ und „sehr viel mehr als Musik“. Diederichsens These: Wenn es auf der einen Seite die herrschenden gesellschaftlichen Schichten und die von ihnen goutierte autonome Kunstmusik gibt, dann gibt es auf der anderen Seite die nicht herrschende breite Masse mit ihrer statischen, seelenlosen Unterhaltungsmusik. Innerhalb dieser Sphäre der Nichtherrschenden und der niederen Kunst, der Low-Art, ist dann aber die ständig neue, dynamische, rebellische, provozierende Pop-Musik so etwas wie die High-Art, und ihre Vertreter sind gewissermaßen die Aristokraten innerhalb der populären, der Massenkultur. Pop-Musik nach Diederichsen wird getragen von Hipstern, Spinnern, Ausgegrenzten, Minderheiten, die mit unausgebildeten, seltsamen Stimmen und im Studio erzeugten Geräuschen, mit punktuellen und dauerhaften Soundzeichen, mit Totem-, Fetisch- und Signature-Sounds, mit dem Gebrauch von verschmutzten und fremden Zeichen eine Haltung zur Welt einnehmen und ein leidenschaftliches Kommunikationsangebot an die Fans machen, ohne sich auf eine bestimmte Botschaft festlegen zu lassen, ohne angreifbar oder wirklich fassbar zu werden. Die kleinste Einheit des pop-musikalischen Vokabulars (und Theaters), und das ist für Diederichsen zentral, stellt die „performativ zu verstehende“ Pose dar. Zentral ist sie, „weil sie etwas Neues in die Welt setzt: einen neuen Gedanken, ein neues Argument. Alle Erfindungen der Pop-Musik sind um Posen, um Ideen herumgebaut, was für ein fiktiver Mensch einer oder eine sein könnte.“ Außerdem charakteristisch für Pop-Subjekte seien subtile Strategien der Inklusion und der Exklusion, das Ziel die Selbstbehauptung als „eine eigene Gesellschaft mit einer eigenen Moral“.

Regeln, Luftwurzeln, Phantomschmerzen

Darum geht es im Wesentlichen – wenn ich es richtig verstanden habe. Um diesen Kern herum werden alle möglichen Gedanken und Denkmodelle, vor allem Regeln aufgefahren. So darf Pop-Musik weder Kunst werden noch authentisch sein wollen – auch wenn Diederichsen – etwa am Beispiel von Todd Rundgren – Wege aufzeigt, wie es doch noch klappen könnte mit der Kunst. Paradox! Der Rock ’n’ Roll, die Gegenkultur und die Punk-Rebellion gehören für den Autor in die „heroische Phase der Pop-Musik“, daran anknüpfend sieht er die postheroischen „Style Wars“ der 1980er und 90er Jahre, in denen zwar immer versiertere, tollere, stilistisch und genremäßig immer weiter verzweigte Pop-Musik entstanden sei, diese Pop-Musik aber ihre gesellschaftliche Bodenhaftung verloren habe, mit einer Tendenz zur Abgrenzung um ihrer selbst willen. Hinzu komme, dass plötzlich Makel in der Pop-Musik erkannt und thematisiert worden seien – rassistische Country-Musik, antisemitischer Hip-Hop, frauenfeindliche Rockmusik. Der Subkulturalismus sei damit einfach zusammengebrochen, stellt Diederichsen lakonisch fest. Nach Techno und Ambient sei der heutige Zustand durch eine Verselbstständigung der Pop-Musik gekennzeichnet, sie bleibe nun gänzlich ohne sozialen Bezug. Pop-Musik schlage Luftwurzeln und erleide Phantomschmerzen, die hin und wieder wahr würden: etwa im Hervorbringen von Vorläufern der New Yorker Occupy-Bewegung, aber auch im Auf-den-Plan-Treten norwegischer Black-Metal-Neonazis. Noch häufiger aber gehe die Luftwurzel den Weg der endlosen Verfeinerung…

Widersprüche, Irritationen

So lakonisch, defensiv und achselzuckend hat man Diederichsen selten erlebt. Die halbherzige, fast schon beiläufig verharmlosende Auseinandersetzung mit den menschenfeindlichen Auswüchsen von Rock-, von populärer oder auch von Pop-Musik, deren fast schon verspielte Charakterisierung als Phantomschmerz, gesellt sich zu vielen anderen irritierenden Aspekten in seinem Buch. Zum Beispiel gibt es da mittendrin merkwürdig ambivalente und unverschämt naive Zuspitzungen wie: „Kunst und Liebe sind von Dauer, Pop, Sex und das Leben dagegen kurz“, oder: „Wenn man nicht wissen will, wie die Musiker aussehen, so die Faustregel, dann ist es keine Pop-Musik.“

Auweia.

Widersprüche klangen schon an. Hinzu kommen Theorieexkurse, die zu nichts führen, etwa die irgendwann im Sande verlaufende Erörterung des fotografietheoretischen Punctum-Begriffs nach Roland Barthes, und die unerklärliche Ignoranz gegenüber Texten und Musik. Stattdessen wird die Kategorie Sound derart überhöht, dass man sich kopfschüttelnd fragt, ob etwa die klassische Musik jahrhundertelang ohne Klang gearbeitet habe. Sound an sich ist doch nichts, was nur der Pop-Musik gehört – die mutmaßliche Pop-Musik hat lediglich ihren eigenen Sound entwickelt. Genauso wie sie ihre eigene Musik entwickelt hat. Und die erscheint mir überhaupt nicht so zweitrangig, wie Diederichsen sie beschreibt. Man nehme nur den Superhit The Look of Love der 80er-Jahre-Diskurshelden ABC, ein kraftvolles Stück Musik mit feinem Text, das noch heute weltweit regelmäßig gespielt und gesendet wird: Die Pose von damals ist längst verblasst, aber der Song ist geblieben.

Are you initiated?

Besonders hervorzuheben sind die mal mehr, mal weniger subtilen Ab- und Ausgrenzungsstrategien, die Diederichsen nicht nur als charakteristisch für Pop-Musik beschreibt, sondern auch selbst ganz bewusst gegen sein eigenes Publikum fährt. Zwei nicht weiter begründete linke Haken gegen den „Knallkopf“ Eric Clapton sollen ganz offensichtlich die „Nichtinitiierten“ treffen, die dem Irrglauben erliegen, ein seichter Musik-Musiker wie „Mr. Slowhand“ sei ein Vertreter der Pop-Musik. Im Gegenzug berichtet Diederichsen ausführlichst von seiner eigenen „Initiation“ in die Pop-Musik, um im Anschluss immer wieder die „Nichtinitiierten“ zu belächeln, zum Beispiel wenn sie fieberhaft nach Bedeutung suchten… Ja, da müssen wohl einige draußenbleiben. Denn Diederichsen geht es „darum, wie Leute mit Pop-Musik umgehen, die in einem oder mehreren Punkten mit mir über den Charakter der Pop-Musik einig sind und aus diesem Wissen heraus agieren.“ Da stellt man sich unwillkürlich zwei Fragen. Erstens: Wozu dann überhaupt dieses Buch? Und zweitens: Wie kommt Diederichsen als Initiierter zu solch einem immensen Bedeutungsüberschuss?

Flucht in die Nische

Sein Fazit markiert dann einen echten Antiklimax. Noch 1986 hatte Diedrichsen in seinem Buch Sexbeat gefordert, die Rockmusik solle durch ein im marxistisch-leninistischen Sinne geprägtes Lumpenproletariat übernommen werden, dem als mehrfach gebrochenen Kollektiv der „Abbau des Überbaus“ obliege. Das Lumpenproletariat habe eine von neuem, gewissermaßen vorgetäuschtem Individualismus getragene Produktion anzukurbeln – so lange, bis „so viele zu Tribünen imaginärer Völker gewordene Individuen ihre Individual-Diskurse als Gruppen- und Sekten-Diskurse relevant und verbindlich gemacht haben und damit eine solche Multiplikation von ‚relevanten’ Aussagen geschaffen haben, dass das kulturelle System überladen zusammenbricht.“ Rund 30 Jahre später, in Über Pop-Musik, sieht sich Diederichsen mit einer Situation konfrontiert, in der die pop-musikalischen Nischen dominieren. Diese hätten zwar keine Ambition auf Wirkung, aber sie würden Praktiken retten und aufbewahren und damit jene Liebhaberei betreiben, die nötig sei, um Kunst vor dem Staat und dem Markt zu schützen. Das sei zwar weit entfernt von heroischer Pop-Musik, aber fruchtbar als Ausgangspunkt für Fortentwicklung. Ein letzter Hoffnungsschimmer: Pop-Musik „kann sich aber nur dann über einen weiteren, vielleicht wieder fünfzig Jahre währenden Zyklus der Relevanz freuen, wenn sie nun zu der Musik wird, die die Kooperation auf den Weg bringt: nicht mehr als Kooperation unverwechselbarer Einzelner mit indexalisch übertragenen Stimmen und Effektgeräten, sondern als Kooperation von Leuten, die sich von ihren Zielen, Gegenständen und Einzugsgebieten her definieren. Das erfordert andere Medien, andere Ästhetiken, die selbstverständlich alle schon irgendwo unverbunden schlummern.“

Diedrozentrische Pose oder Diskurs-Diskurs?

Plötzlich geht es um echte Kooperation und das ernsthafte Arbeiten an gemeinsamen langfristigen Zielen, um eine Perspektive für die nächsten 50 Jahre, wo doch Pop wie Sex und das Leben kurz sein soll. So recht will das nicht zum Vorangegangenen passen. Und doch ist es nur ein weiteres Beispiel dafür, wie Musik bzw. ein kulturelles Phänomen immer und immer wieder mit der völlig überzogenen Erwartung überladen wird, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Es ist eine große pathetische Geste der Maßlosigkeit, die umso maßloser erscheint, je weniger gesellschaftliche Relevanz sie besitzt. Nadja Geer beschrieb diese Haltung Diederichsens und anderer deutscher Pop-Diskurshelden nicht immer schmeichelhaft als „sophistication“, als ästhetische Taktik, „die von ihrem Wesen her undemokratisch ist“ – mit dem Ergebnis, „dass bestimmte Denkstile (…) an die Stelle politischen Handelns treten“ und die Pop-Intellektuellen „allergrößte Probleme haben, sich im gesellschaftlichen Gefüge der Bundesrepublik zu verorten.“

So bleibt von Diederichsens Werk vor allem der Eindruck des Willens zum absoluten Kunstwerk à la Adorno: Auch Über Pop-Musik scheint sprachlich immer wieder aus sich selbst zu schöpfen, ist kaum nachvollziehbar verästelt und voller Ecken, Brüche und Kanten, dreht diskursive Extraschleifen, lädt ein und entzieht sich oder stößt vor den Kopf – es ist die Analogie zur pop-musikalischen wall of sound, eine wall of words gewissermaßen, ein Werk aus endlos übereinandergeschichteten Sprach- und Theoriespuren, elitär und narzisstisch, hochkomplex und dann wieder erschreckend trivial. Es ist, wenn man so will, Diederichsens ultimativer literarischer Über-Pop-Song, mit dem er sich noch über seinem Gegenstand erhebt und zur Herrschaft in der Sphäre der Nichtherrschenden zu streben scheint. Und das mit einem gigantischen Bathos-Knall. Bathos ist der komisch-absurde Effekt, der entsteht, wenn Hohes auf Niederes prallt oder etwas eher Triviales ganz bewusst überaus ernst und hochtrabend reflektiert wird – wenn also Carl Perkins mit einer Inbrunst und Verzweiflung, so als ginge es um Leben und Tod, bloß seine geliebten Blue Suede Shoes, seine blauen Wildlederschuhe, besingt. Ein ähnlich groteskes Ungleichgewicht ergibt sich zwischen dem eher leichten Gegenstand „Pop“ und Diedrichsens bombastischem Theorieapparat, zwischen dem mehr als 400 Seiten langen Feiern eines verstörenden rauschhaften Phänomens und dem schließlichen Rückzug in die kleine Nische auf den letzten Seiten.

Nun ist Diederichsen alles andere als dumm. Er bekommt seit Jahren ordentlich Gegenwind und fährt doch beeindruckend konsequent auf seiner Schiene weiter. Eigentlich muss er um das Elitäre seiner Position und um die vielen Angriffspunkte wissen, die seine Argumentation bietet – und damit um das Widersprüchliche, Schillernde seines Gegenstands „Pop“ selbst. Vielleicht ist Über Pop-Musik – und so ließe sich das Buch retten – tatsächlich eine ganz bewusste literarische Analogie zu dem einfach nicht zu fassenden Phänomen „Pop“ mit all seinen narzisstischen Anwandlungen, seinen unverschämten Ansprüchen und Forderungen, seiner Eingeweihtenrhetorik und seiner unglaublichen Stilvielfalt, bei gleichzeitigem Sich-nicht-festlegen-Lassen und Brüskieren, sturer Verweigerung.

Haben wir es also doch mit einer kunstvollen diedrozentrischen Pose zu tun, die der meisterhaften Erkundung des innersten Wesens eines geheimnisvollen kulturellen Phänomens dient? Oder überhöht hier nur ein monströses Ego sich selbst und die aufregenden Erlebnisse, vielleicht aber auch die frustrierenden Misserfolge und Versäumnisse seiner eigenen ewigen Adoleszenz? Unangenehm bleibt auf jeden Fall, dass man für die literarisch-philosophische Kraftanstrengung dieses Diskursastronauten avancierte 40, in Worten: vierzig!, Euro an der Buchhandlungskasse abgeben darf. Angenommen aber, Diederichsen meint seine 450 Seiten Über Pop-Musik nicht als augenzwinkernden Pop-Diskurs, sondern wirklich ernst, gewissermaßen als Diskurs-Diskurs: Hat er sich mal gefragt, ob die Nichtherrschenden solche Diktatoren wie ihn überhaupt als Herrscher wollen, geschweige denn tolerieren würden? Ich jedenfalls halte es am langen Ende mit einer These aus dem Jahr 1908, die besagt, dass Differenzierungen und Kategorisierungen nicht in der Musik, sondern in den Hörern begründet liegen. Ich bleibe weiterhin der Meinung, dass jegliche Musik auch zukünftig allen Theorien zum Trotz machen wird, was sie will. Und ich würde niemals unter Diederichsen dienen wollen, selbst unter dem fantastischen Todd Rundgren nicht.

Diedrich Diederichsen, Über Pop-Musik. ISBN: 978-3-462-04532-1, 474 Seiten, Klappenbroschur, 39,99 €