Orientierung in turbulenten Zeiten

Ein paar Gedanken zur Popmusik und zu meinem neuen Buch
„Playlist zum Glück“

Es fällt nicht leicht, mit der Zeit zu gehen. Vor allem wenn man weiß, wie es vor einem halben Jahrhundert war. Damals, in den 1970ern, hatte Popmusik noch einen anderen Status, sie war anders präsent, gleichzeitig greifbarer und halbwegs überschaubar. Als immer noch neuer, spektakulärer, teils skandalöser Sound einer aufbegehrenden Generation drängte sie in die Öffentlichkeit und in die führenden Medien – wer damals up to date sein wollte, brauchte nur ein paar wenige einschlägige Radio- und Fernsehsendungen kennen, zwei, drei relevante Zeitschriften lesen und ab und zu den DJ in der Disco des Vertrauens befragen. In den Charts tummelten sich aufmüpfige Rock-Acts neben Schlagerstars, popmusikalische Provokationen zielten auf Bewusstseinserweiterung und progressive gesellschaftliche Veränderung, die Vinylschallplatte und das Tonband waren die magischen Medien der Stunde. Ich erinnere mich noch daran, wie man als Kunde in größeren Plattenläden ein paar angesagte neue Scheiben aus den Fächern zog, damit zur Theke stapfte und das Personal bat, sie aufzulegen. An einem von mehreren Kopfhörerplätzen durfte man dann reinhören, um anschließend eine gut begründete Kaufentscheidung zu treffen – wenn man sich nicht schon vorher nach reichlich Musikgenuss mit leicht schlechtem Gewissen davongestohlen hatte.

Ein endloser, manchmal überfordernder Strom

Es folgten technische Veränderungen und die Aufsplitterung der Popmusik in immer mehr Genres und Subgenres. Plötzlich wurde es digital und unübersichtlich. Die Audio-CD und neue mediale Formate wie Fanzines und Spezialsendungen erlebten eine kurze Blütezeit, dann riss das Internet endgültig alles mit sich. Heute hat sich die Art und Weise, wie Musik produziert, verbreitet, reflektiert und konsumiert wird, grundlegend verändert. Klar wird auch 2025 noch Radio gehört, aber mindestens genauso häufig wird Musik gestreamt, verpackt in Abomodelle und in Playlists für die unterschiedlichsten Genres, Anlässe und Stimmungen. Was gespielt wird, ist immer häufiger nicht mehr von Menschen kuratiert, sondern von undurchschaubaren Algorithmen gesteuert – und Musikschaffende, die nicht zu den Superstars zählen, was auf die überwältigende Mehrheit der Acts zutrifft, haben deutlich weniger Umsatzchancen als in früheren Zeiten. Musik ist ein endloser, manchmal überfordernder Strom geworden. Die Inhalte und die Stars werden immer weniger greifbar – und das am Ende auch im wörtlichen Sinne: Man muss nur an die schwindende Bedeutung von funkelnden Tonträgern mit kunstvoll gestalteten Covern samt grafischen Gimmicks und Abdruck der Lyrics denken.  

Auch was das kontroverse Potenzial von Popmusik betrifft, hat sich viel verändert. Noch heute provozieren Songs und sorgen für Zündstoff, keine Frage – doch in vielen Provokationen der vergangenen zehn, zwanzig Jahre spiegelt sich ein reaktionärer Backlash. Wer zuletzt anecken und schocken wollte, tat das nicht mehr mit Sozialkritik, Protest und einer besonders liberalen Haltung, sondern mit ironiefreiem Gangsta-Rap samt misogynen, homophoben, antisemitischen Parolen; oder kokettierte herausfordernd mit rechtspopulistischen Positionen. Pop dieses Kalibers besetzt regelmäßig die Spitzenplätze der Charts, und die entfernen sich immer weiter von den Programmen der großen Radio- und Fernsehsender. Wer beispielsweise auf der Autobahn durch Deutschland fährt und sich durch die von Bundesland zu Bundesland wechselnden 1er-, 2er-, 3er-, Info-, Service- und Jugend-Wellen zappt, hört die immer gleichen massenkompatiblen Titel, jeweils zugeschnitten auf ein bestimmtes 80er-, 90er-, Schlager-, Klassik- oder Youngster-Publikum. Das soll nicht falsch verstanden werden: Gegen Kurzweil und leichte Unterhaltung ist nichts einzuwenden, zudem handelt es sich meist um gute und gut gemachte Programme. Doch sie sind omnipräsent und leben von gängigen oder gut abgehangenen Titeln, die auch gern mal zu Tode genudelt werden. Die wirklich aufregende, auch kritische und innovative, nicht alltägliche neue Popmusik dagegen wird seit der Jahrtausendwende kontinuierlich aus der Öffentlichkeit verdrängt: auf immer weniger Sendeplätze zusammengepfercht, zu immer späterer Stunde ausgestrahlt und mehr und mehr ins Privat- beziehungsweise Indieradio verlagert oder ganz in die endlosen Weiten des Internets abgeschoben. Verschärft wird diese Entwicklung durch antiliberale Meinungsmache und durch Sparzwänge, denen viele beliebte Sendungen, Teile von Redaktionen und manchmal ganze Wellen zum Opfer fallen. Ein schlimmer Trend, der ganz nebenbei auch die Kultur- und Kulturförderungsinstitutionen erfasst hat.

Spannende Musik, neue Vermittlungsformate

Mit anderen, allgemeineren Worten: Früher kam die elektrisierende Musik fast von allein zum Fan – heute muss der Fan die elektrisierende Musik umständlich suchen: über Bandportale und Tipps in den sozialen Medien, über das Eintauchen in die unüberblickbare Welt der Internetradios, das Studium teurer Spezialmagazine, spontanes Shazamen in den unmöglichsten Situationen oder über Online-Shopfunktionen wie „Ähnliche Titel/Interpreten“. Das Gute ist: Es gibt sie, diese elektrisierende Popmusik, immer wieder und in immer neuen Ausprägungen. Und: Es wachsen neue Vermittlungsformate nach. Diese werden meist realisiert von engagierten Music Lovers, die ehrenamtlich, mit kleinem Budget oder unterstützt durch Werbeeinnahmen und Spenden ans Werk gehen. Die Rede ist von genreübergreifenden Musikpodcasts wie „Mein Lieblingssong“ (Stephan Falk und Andreas Ryll, Köln/Mönchengladbach), „Kulturmenü“ (Angelika Ortner, Wien) oder „Life in Mixtapes“ (Christian Stangl und Lukas Filipek, Wien), aber auch von E-Mail-Magazinen wie „Zwischen zwei und vier“ (Melanie Gollin und Rosalie Ernst, Berlin) oder dem E-Mail-Newsletter „Ein Song Reicht“.

Gerade „Ein Song Reicht“, benannt nach einem Song der gewitzten Chemnitzer Rockband Kraftklub, beschreitet einen ungewöhnlichen Weg. Jeden Tag versenden der Leipziger Musikmanager Fabian Schuetze und der Musikjournalist Martin Hommel einen Newsletter, in dem eine mehr oder weniger bekannte Persönlichkeit einen einzigen Song empfiehlt – mit Link zum Video und einer Begründung der Wahl. „Da wir die Szene im eigenen Land stärken wollen“, so die Macher, „stellen wir nur eine Bedingung: Die vorgestellten Songs müssen von Musiker*innen stammen, die in Deutschland leben. Nationalität, Herkunft, Art der Musik, Erscheinungsdatum und Sprache, in der gesungen wird, sowie Bekanntheit der Künstler*innen sind dabei nebensächlich.“ Vor dem Hintergrund des Schwunds an engagierten Musikmagazinen und verfügbaren Slots im Radio, aber auch mit Blick auf den Streaming-Wahn, an dem vor allem die Portalbetreiber verdienen, möchten Schuetze und Hommel „durch die Fokussierung auf nur einen Song pro Tag und die Wahl des Kanals – der Maileingang als deutlich ruhigeres und wertigeres Umfeld – eines erreichen: Tolle Musik mit einem interessierten Publikum zusammenbringen und dem einen vorgestellten Song echte und relevante Aufmerksamkeit und Reichweite bringen. Wir möchten hochwertige Musik aus Deutschland ins Scheinwerferlicht stellen und ein großes Schaufenster bieten.“

Der Sound des Unbewussten

„Ein Song reicht“ ging im März 2024 an den Start und bedankt sich auf der Website bei aktuell über 15.000 Subscribern. Der Einstieg ist für Neulinge kinderleicht – zum einen genügt ein Klick, um sich für den Newsletter anzumelden, zum anderen lässt sich im Archiv schnell nachverfolgen, wen und was man bisher verpasst hat. Das Projekt steckt voller Überraschungen, denn schon die Empfehlenden kann man nur in wenigen Fällen als echte Prominente bezeichnen. Sie stammen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen – aus Kunst, Musik, Film oder Theater, aus Kulturbusiness und Politik, Wirtschaft, Sport, aus den Medien oder der Kreativszene – und bilden Diversität in all ihren Facetten ab. Sie sind in die unterschiedlichsten Tätigkeiten und Projekte involviert, zu denen man als Abonnent gern mal weiterrecherchiert. Doch auch die empfohlenen Acts und Songs sind alles andere als Mainstream. Vom kreativen jungen Erwachsenen, der gerade seinen zweiten Home-Track produziert hat, bis zur routinierten Bandleaderin ist alles dabei. Der Queerness-Faktor ist hoch, und die vielfach nur in In-Kreisen bekannten Stücke stammen aus den unterschiedlichsten Genres – das Spektrum reicht von Indierock, Rap und Chanson bis Ambient, Türk Pop, Electronica und House.  

Angesichts dieser enormen Vielfalt wird man als Subscriber nur alle paar Tage oder Wochen eine Songentdeckung machen, die den eigenen Geschmack voll und ganz trifft. Doch es geht ja auch darum, zu entdecken, was sich so alles tummelt (und mal getummelt hat) in der deutschen Musikszene – und in dieser Hinsicht leistet „Ein Song Reicht“ ganze Arbeit. Viele Songs befassen sich mit sozialen Themen, erzählen von Ausgrenzung und Empowerment, von Stress und Orientierungslosigkeit, von Ängsten und psychischen Problemen. „In einem Gespräch sagte neulich jemand zu mir, in der Popmusik gebe es im Moment einen Overkill an Songs über Mental Health“, schreibt Gloria Grünwald, Moderatorin bei egoFM und Macherin eines eigenen Musikprojekts namens Greenwald, zu ihrer Empfehlung für „Ein Song Reicht“. „Das denke ich nicht. Wie kann ein Thema erschöpft sein, wenn wir noch immer nicht an dem Punkt sind, dass sich alle ohne Angst vor Verurteilung darüber äußern können? Wir arbeiten dran, oder? ‚Stabil‘ von AB Syndrom ist ein weiterer wichtiger Song in diesem Prozess, der die Message transportiert: Du bist nicht allein. Und um Empathie wirbt. Denn viele Struggles sind von außen nicht sichtbar.“ Und weiter: „AB Syndrom fliegen trotz Hits wie ‚Flaggschiff‘ oder ‚Bora Bora‘, mehreren spitzenmäßigen Alben und Songs mit Mine noch immer unter dem Mainstream Radar – wird Zeit, dass sich das ändert!“

So macht „Ein Song reicht“ nicht nur einen facettenreichen musikalischen Underground sicht- und hörbar, der unter der flauschigen Mainstream-Pop-Oberfläche floriert, sondern, wenn man so will, auch das Verdrängte, das im Unterbewussten unserer Gesellschaft gärt. Das Leiden an und das Ringen mit gesellschaftlichen und Geschlechter-Normen, die Auseinandersetzung mit Leistungsdruck, sozialer Ungerechtigkeit und Perspektivlosigkeit, mit dysfunktionalen familiären Strukturen und komplizierten Liebesbeziehungen ziehen sich trotz zahlreicher Motivations- und Gute-Laune-Tracks wie ein roter Faden durch die „Ein Song Reicht“-Empfehlungen.

Der Therapie-Faktor

Natürlich hatte Popmusik schon immer auch mit der Verarbeitung von persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen zu tun, mit dem Kampf gegen Traumata, mit Empowerment. Doch mindestens genauso wichtig, wenn nicht wichtiger waren über Jahrzehnte hinweg das Abenteuer, der Ausbruch, das Sprengen von Grenzen, politische Veränderung, die lustvolle Selbstinszenierung, die ganz große Geste, das sinnliche Erleben, der größtmögliche Spaß. Heute scheint der selbsttherapeutische Aspekt des Musikmachens an Bedeutung gewonnen zu haben. Gleichzeitig rückt der therapeutische Effekt von Musik und speziell von Popmusik auch für uns, die Fans, stärker in den Fokus. Dass Songs uns begleiten und pushen, dass sie Trost spenden und uns vermitteln, mit unseren Sorgen und Nöten nicht allein zu sein, war schon immer so und wird durch Millionen von Kommentaren in Fanforen und unter Youtube-Videos bestätigt. Doch längst beschwören auch Buchautorinnen und -autoren die heilsame Wirkung von Popmusik auf das Publikum, werden Songs zum Thema für Mental-Health-Experten und Life-Coaches.

Schon 2019 veröffentlichte der Psychologieprofessor Stefan Kölsch ein Buch mit dem Titel „Good Vibrations – die heilende Kraft der Musik“, für das zweite Halbjahr 2025 sind gleich mehrere Bücher angekündigt, die erklären, warum Musik, und damit auch Popmusik, uns glücklicher, gesünder, intelligenter und friedlicher macht, wie wir durch Musik schlau werden und, Achtung, wie eine kraftvolle Verbindung von Achtsamkeit und Heavy Metal aussehen kann. Schon ganz aktuell auf dem Markt ist mein neues Buch „Playlist zum Glück – 99 ½ Songs für ein erfülltes Leben“. Es erschien Ende März wie schon der Vorgänger „Mein Herz hat Sonnenbrand“ beim renommierten Reclam-Verlag, der in den letzten Jahren eine beeindruckende Sparte an spannenden Musiksachbüchern aufgebaut hat – auch das ein Impuls in Sachen „Neue Musikvermittlungsformate“, wenn man so will.

Playlist zum Glück

Die „Playlist zum Glück“ ist eine nicht ganz alltägliche Kombination aus Musiksachbuch und Lebensratgeber. Es geht nicht einfach nur um tolle Songs, die berühren und uns ein gutes Gefühl geben – dazu könnte man tatsächlich ganze Regalwände an Büchern schreiben. Nein, die Songs, die vorgestellt werden, zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie in ihren Lyrics konkrete Tipps zur Lebensführung formulieren oder dass sich solche Tipps zumindest deutlich aus den Texten heraushören lassen. „Das Universum und wir“, „Haltungen, die den Alltag leichter machen“, „Liebe und Partnerschaft“, „Resilienz“, „Veränderungen managen“, „Getting Started“, so lauten die Kapitelüberschriften, und sie deuten schon die Motivation hinter dem Buch an. Unsere globalisierte Welt stellt uns fast täglich vor neue Herausforderungen, immer wieder müssen wir uns neu einstellen, uns neu erfinden, hinzu kommen internationale Krisen wie Pandemien und Kriege, die uns Sorgen bereiten. Wenn Songs uns positiv begleiten, uns trösten und motivieren können, dann wäre doch eine Playlist aus Stücken von Interesse, die uns nicht nur emotional, musikalisch, sondern auch textlich Orientierung in diesen turbulenten Zeiten bieten. Die 99 ½ Songs samt Lebensführungstipps werden ergänzt durch zahlreiche Empfehlungen zum Weiterhören, es gibt also einiges zu entdecken, auch an inspirierenden Gedanken und potenziellen neuen Lieblingssongs.

Über den Zustand der Popmusik und die aktuellen Zeitströmungen habe ich mir beim Schreiben des Buchs keine Gedanken gemacht. Aber wenn man das Playlist-Format betrachtet, den Fokus auf die heilsame Wirkung von Songs, die Tatsache, dass auch der eine oder andere Act aus dem „Ein Song Reicht“-Newsletter den Weg in mein Manuskript gefunden hat, sowie den Umstand, dass ich in den genannten Musik-Podcasts schon zu Gast war oder zu Gast sein werde, dann hat meine „Playlist zum Glück“ wohl den Finger am Puls der Zeit.

Mehr über „Playlist zum Glück“ auf meiner neuen Autoren-Website und bei Reclam

Einfach mal den Horizont erweitern

Oper und Operette, Klassik, Neue Musik, Varieté-Songs, Jazz: Es gäbe ja so viel zu entdecken neben Pop und Dance … wenn der Weg dorthin nicht durch unsichtbare Hürden verbaut wäre. Der Gedanke, sich erst durch tonnenschwere Lexika lesen zu müssen, um zu einem Verständnis der zunächst fremd klingenden Stücke zu gelangen, schreckt ebenso ab wie die kaum durchdringbare Fülle an Werken, die anstrengende Ernsthaftigkeit der Musikwissenschaft oder der Dünkel eingefleischter Feuilletonistinnen und Feuilletonisten. „Kulturmenü“ dagegen, der außergewöhnliche Podcast der Wiener Pianistin Angelika Ortner, ermöglicht mit erhellenden Gesprächen samt passenden Musikeinspielungen einfache, vorurteilsfreie Zugänge – und schlägt ganz nebenbei die Brücke zu Pop und Rock. Grenzenlos lehrreich, ausnahmslos unterhaltsam.

„Ich spreche mit meinen Gästen über bekannte Musikstücke aus allen Stil- und Zeitepochen. Wir hören passende Musikbeispiele und versuchen in unseren Gesprächen, einen neuen Zugang zur Musik zu ermöglichen.“ So beginnt jede Folge des Podcasts „Kulturmenü“, den die Wiener Pianistin Angelika Ortner im April 2021 ins Leben gerufen hat. Und dann geht es auch schon in medias res – wird eine Arie, eine Symphonie oder eine Sonate, ein Chorwerk oder ein Stück Filmmusik, ein Jazzstandard oder ein Rocksong unter die Lupe genommen, und das auf sympathisch-lockere, Interesse weckende Weise. Pro Folge gibt es einen Gesprächspartner oder eine Gesprächspartnerin, und dieses Gegenüber – das ist das Besondere – kommt selten aus dem Hörsaal oder aus der Forschung, sondern in der Regel aus der musikalischen Praxis, manchmal auch aus der schreibenden Zunft. Gerade dieser Ansatz ermöglicht selbst den Laien und Musikinteressierten mit Berührungsängsten im Publikum einfache, spannende Zugänge. Es ist eben ein Unterschied, ob ein Musiktheorie-As bierernst und unter Verwendung zahlreicher Fachbegriffe eher abschreckend über ein schwer zugängliches Werk doziert oder ob Menschen, die dieses Werk aufführen, vielleicht auch auf andere Weise mit ihm verbunden sind, über ihre eigenen Erfahrungen berichten. Wenn also ein Dirigent seine Herangehensweise erklärt, ein Solist die Finessen einer genialen Improvisation beschreibt oder ein Rockmusiker von persönlichen Begegnungen mit den Schöpfern eines Hits erzählt und alle zusammen vermitteln, was das jeweils besprochene Stück für sie persönlich bedeutet, taucht man automatisch ein in die Arbeit an und mit Musik und wird von ganz allein neugierig. Am Ende jeder Folge weiß man garantiert mehr als am Anfang und spürt, wie der eigene musikalische Horizont sich weitet.

Angelika Ortner hat am MUK der Stadt Wien, dem ehemaligen Konservatorium, Klavier und Klarinette studiert, absolviert regelmäßige Auftritte als Solistin und wirkte an zahlreichen Studioaufnahmen mit. Daneben ist sie in der Korrepetition mit Sängerinnen und Sängern (Staats-und Volksoper) sowie mit Instrumentalist:innen tätig. Den „Kulturmenü“-Podcast beschreibt sie als ihr „Herzensprojekt“, geschmäcklerische Barrieren und Vorbehalte gegenüber der Popkultur kennt sie nicht. „Was zählt, ist spannende, interessante Musik“, sagt sie, „und die gibt es zu jeder Zeit, in jeder Sparte.“ Schon mehr als 80 Folgen ihres grenzenlos lehrreichen und ausnahmslos unterhaltsamen „Kulturmenü“-Podcasts hat sie produziert. Die Folgen sind im Schnitt 55 Minuten lang, aber die Hörzeit vergeht wie im Flug. Ein feiner Zug ist auch die immer gleiche Schlussfrage, die Angelika Ortner seit geraumer Zeit jedem Gast stellt: Was können Kunst und Kultur zu einer besseren Zukunft beitragen? Allein für die vielschichtigen Antworten auf diese Frage lohnt es sich, bis zum Ende dranzubleiben. 

Wichtig ist der „Kulturmenü“-Macherin der unmittelbare persönliche Kontakt, also ein Treffen in der analogen Welt. Nur so entstehe ein wirklich vertrauensvolles, intensives und produktives Gespräch. Die Produktion muss nicht in Wien stattfinden, die Podcasterin nimmt auch mal ihr Equipment mit auf Reisen, wenn sich auf diese Weise ein Treffen realisieren lässt. Doch hat diese Herangehensweise auch zur Folge, dass manchmal viele Monate vergehen, bis das Gespräch mit einem Wunschgast stattfinden kann. Immerhin: Bisher hat sich das Warten stets gelohnt. Sämtliche Folgen sind übersichtlich auf der „Kulturmenü“-Website aufgelistet und durch einen Klick abspielbar.

Los ging es im April 2021 mit Jörg Schneider. Der Tenor der Wiener Staatsoper sprach über die Schwierigkeiten und Schönheiten der Arie Nessun dorma aus Giacomo Puccinis Oper Turandot. Über die anspruchsvollen Passagen und Besonderheiten von Claude Debussys Claire de Lune, einem der berühmtesten Werke der Klavierliteratur, diskutierte Angelika Ortner mit einem Kollegen, dem Pianisten Hyung-ki Joo. Für ihn kreiert das Stück auch einen Raum von Ewigkeit. What A Fool Believes von den Doobie Brothers, das Phänomen „Yacht Rock“ und ein bestimmtes Summer-Feeling waren Themen eines Gesprächs mit dem Musikjournalisten und Radiomoderator Eberhard Forcher. Der Beatles-Song Come Together, aber auch Plagiatsvorwürfe, Coverversionen, Dialektgedichte und Verschwörungstheorien ließen wiederum den selbsternannten Beatle-ologen Georg Breinschmid ins anregende Plaudern kommen. Und am Beispiel des Bossa-Nova-Klassikers Desafinado erzählten Patricia und Arnoldo Moreno über das Singen auf Portugiesisch, die Zusammengehörigkeit von Stimme und Gitarre und die ungewöhnlich beruhigende Wirkung von Bossa Nova.

Man muss einfach noch weitere Folgen erwähnen, um die ganze Dimension dieses Podcasts zu umreißen. So nahm der österreichische Trompeter Thomas Gansch Dizzy Gillespies A Night in Tunisia zum Anlass für ein paar erhellende Ausführungen über den Bebop und das Improvisieren – ganz nebenbei erfuhr man, was ein Solo-Break ist. Bruckner-Biograf und Musiker Norbert Trawöger steckte mit seiner Begeisterung für das Chorwerk Locus iste an und verriet, dass sogar Fußballfans ein Stück von Anton Bruckners 5. Symphonie im Stadion singen. Und während Dirigent Daniel Beyer inspirierende Gedanken zum aufwühlenden Adagietto von Gustav Mahler beisteuerte, fand Christoph Huber, Kurator des Österreichischen Filmmuseums, passende Worte, um zu erklären was die Faszination von Ennio Morricones Kompositionen für die Soundtracks von Italo-Western wie Spiel mir das Lied vom Tod ausmacht. Ja, auch der deutsche Musiker und Entertainer Götz Alsmann war schon bei Angelika Ortner zu Gast, erzählte pointenreich Anekdoten rund um Bert Kaempferts jazzigen Schlager L-O-V-E. Für noch einmal ganz andere Einsichten sorgte dann wieder die Sopranistin Camilla Nylund, als sie über die starke Rolle der Elsa in Richard Wagners Oper Lohengrin, über das Sterben auf der Bühne, Wagners Frauenbild und weitere Figuren in seinen Opern reflektierte.

Einer darf in einem Musik-Podcast aus Österreich natürlich nicht fehlen, und das ist Falco. Wobei die Ausführungen von Falco-Bandleader und -Keyboarder Thomas Rabitsch zum Hit Der Kommissar, aber auch zur Textarbeit und zur musikalischen Entwicklung von Österreichs größtem Popstar nicht nur für eingefleischte Fans erhellend sein dürften. Zu den jüngsten Highlights gehören der Puppenspieler Nikolaus Habjan mit spannenden Einblicken in die Kunst des Puppenspiels, aufgehängt am „Muppets Show“-Hit Mah Na Mah Na, sowie der Rocksänger Roman Gregory mit grotesken Geschichten über persönliche Begegnungen mit der Rockband KISS und das Besondere am Disco-Rock-Mix im KISS-Klassiker I Was Made for Lovin‘ You.

Dass Angelika Ortner reges Feedback auf ihren Podcast bekommt, versteht sich von selbst. Am schönsten ist es für sie, wenn sie erfährt, dass sie jemanden inspirieren konnte, Neuland zu betreten – so wie den jungen Mann, der sich nach Anhören einer Podcast-Folge erstmals in ein komplettes klassisches Werk vertiefte und großes Vergnügen empfand. „Auch und gerade für solche Momente“, sagt Angelika Ortner, „mache ich diesen Podcast.“ Mich persönlich inspirierten die Ausführungen von Alois Glaßner, Professor für Chordirigieren, zu den Möglichkeiten, ein auch für ihn schwer zugängliches Stück wie Friede auf Erden mit Sängerinnen und Sängern einzustudieren, Arnold Schönbergs letztes tonales Werk für A-cappella-Chor. Wenn Glaßner von den ruhigeren Passagen als Ankerpunkten, wiederkehrenden Motiven und einem emotionalen Verständnis spricht, erschließt sich allmählich die eigentümliche Schönheit dieses Werks.

Grundsätzlich steht im Mittelpunkt jeder „Kulturmenü“-Folge ein bestimmtes einzelnes Musikstück. Warum ich kürzlich selbst eingeladen war, um für Folge 82 gemeinsam mit Angelika Ortner ein humorvolles Spezial zu meinem Buch Mein Herz hat Sonnenbrand: Über schiefe bis irrwitzige Songtexte aus 60 Jahren deutscher Popmusik zu bestreiten, lässt mich immer noch gelegentlich stutzend schmunzeln. Dabei liegt die Antwort doch auf der Hand: weil das „Kulturmenü“ einfach offen für vieles ist und immer für eine Überraschung gut.

Der Podcast „Kulturmenü“ ist abrufbar unter:
www.kulturmenue.at
und
https://kulturmenu2021.podigee.io

Fotos (sofern nicht angegeben): Darius Edlinger (S/W-Porträts), privat