Von Kirschgeist, Republiktigern und rätselhaften Lyrics

Mein Freund Uwe, der diesen Blog freundlicherweise verfolgt, kann mit Tim Bendzko, Xavas oder Rihanna nur wenig anfangen. „Sind doch aktuelle Themen“, rechtfertige ich meine ersten Posts. Aber Uwe beharrt: „Schreib doch mal was über die Bands, die wir wirklich richtig gut finden!“ Also schön. Aus der unüberschaubaren Menge an Bands, die wir lieben, die aber fast nie im deutschen Radio gespielt werden, greife ich einfach mal zwei heraus: die britische Band Cherry Ghost und The Republic Tigers aus Amerika. Beide Acts haben viele Gemeinsamkeiten: die etwas seltsamen Bandnamen, ein feines Gespür für schöne, teils ausufernde Melodiebögen, einen Hang zum Schwelgerisch-Pathetischen, ordentlich Power, Dynamik – und rätselhafte Texte.

Auf Keep Color, der 2008 erschienenen CD der Republic Tigers, gibt es gleich mehrere Songs, in denen die ohnehin schon nebulösen Lyrics auch noch stimmlich stark strapaziert werden. So wird der Text zu Golden Sand in flottem Tempo und fast ohne Pause abgespult.

Über das Publikum ergießen sich regelrechte Wortkaskaden, aus denen nur noch einzelne Silben, Begriffe, Satzfragmente herausstechen. Der Song wirkt atemlos und erzeugt eine große Spannung. Vage hängen bleibt die Aufforderung an ein Du, offen für eine Sache einzutreten, die Stimme zu erheben, sich den Aufrechten im Kampf gegen was auch immer anzuschließen. Aus „bleeding hearts“, „blutenden Herzen“, sollen „blutige Hände“, „bleeding hands“, werden. Vielleicht eine Aufforderung, das Gefühl des Leidens, der Trauer, in entschlossen zupackende Handlungen zu überführen, also konkret etwas zu tun? Oder auch eine Anspielung auf ein Märtyrertum, die blutenden Hände von Jesus am Kreuz?

In Feelin’ The Future dagegen setzt Sänger Kenn Jankowski sehr viele kleine Pausen, bevorzugt an unüblichen Stellen im Text: mitten in Sinneinheiten, noch vor Ende eines Verses und sogar zwischen einzelnen Wortsilben. Das ist großangelegtes „Enjambement“, wie es in der Fachsprache heißt. So erschließt sich der Text nur stockend und in kleinen Brocken, die man mühsam zusammensetzten muss. Es geht vage um etwas Neues, das gerade beginnt, möglicherweise um eine Beziehung. „Feelin’ the future on your skin“, „Die Zukunft fühlen auf deiner Haut“, heißt es immer wieder. Zögerlich „fühlt“ das Song-Ich das, was kommen wird, und bringt in seinem unflüssigen Vortrag seine Unsicherheit und Vorsicht zum Ausdruck.

Cherry Ghost mögen es viel düsterer. We Sleep On Stones etwa, vom 2010 erschienenen Album Beneath This Burning Shoreline, ist schnell und dramatisch, baut ebenfalls enorme Spannung auf, ein Streichorchester droht einen immer wieder fortzureißen.

Sänger Simon Aldred reiht mit warmer, voller, beschwörender Stimme deprimierende Bilder aneinander: Rache liegt in der Luft („Morning spinning vengeance“), überschüssige Liebhaber singen sich ihr Herz aus („Surplus lovers sing out“), und die Vergangenheit hat die Menschen fest im Griff – sie klammern sich an Fotos, die immer noch ihre Namen rufen („Photographs that we cling to / Still call our names“). Alkohol fließt („Every drink that I’m sinking / Carries the taste“), bittere Kälte lässt die Knochen erzittern („Bitter winter’s got our bones“), die Menschen schlafen auf Steinen, und durch die Wohnräume streift ein Killer („We sleep on stones / There’s a killer in our homes / That drives the night in“), wobei es sich auch um einen Impuls handeln kann, der Empfindungen abtötet. Das Zentrum des Songs, der Ich-Sprecher, scheint sich von einer Last befreien, vielleicht sogar jemanden (aus Rache?) erschießen zu wollen. Er ist sicher, Jesus, mit dem er vor langer Zeit seinen Frieden gemacht hat, würde ihm verzeihen: „Made my peace with Jesus long ago / If he sees what I see / Then he will forgive me / Take ’em down with a clean shot / Take ’em down…“ Etwas Schicksalhaftes liegt über dem Song. Es wird aber nicht konkret benannt und lässt so Raum für vielfältige Assoziationen.

Das gilt auch für wunderbare Songs wie White Winter Hymnal (Fleet Foxes), Misty (Kate Bush), The Adventures of Raindance Maggie (Red Hot Chili Peppers) oder Bakerman (Laid Back). Mehr dazu im aktuellen Beitrag meiner Essay-Reihe auf dem Portal Faust-Kultur: „Stop Making Sense“.

Rihanna: Liebe, maskiert

Wer spricht im Song? Glaubt man einigen Kritikern, dann spricht auf Rihannas überraschend interessantem neuem Album Unapologetical niemand anders als die Künstlerin selbst – etwa über die schmerzhafte Beziehung zu ihrem Ex Chris Brown. Brown ist der Schwachkopf, der seine damalige Freundin 2009 krankenhausreif prügelte. Seit Monaten sieht man die beiden wieder öfter zusammen, Brown singt auf Unapologetical sogar ein Duett mit Rihanna. Da muss doch „alles autobiografisch“ sein!

„Der Longplayer hat es in sich“, schreibt etwa Sabine Metzger für das Portal msn unterhaltung, „Die 24-Jährige verarbeitet hier ihre verkorkste, gewaltbelastete Beziehung mit dem Sängerkollegen Chris Brown ganz offen (…) In ‚No Love Allowed’ erzählt sie zu relaxtem Reggae-Beat und harmlos-verspielter Melodie ziemlich unverblümt von den Misshandlungen, die sie erlebt hat: ‚I was flying til you knocked me to the floor’ (‚Ich flog, bis du mich zu Boden geschlagen hast’).“

Andreas Borcholte schlägt für SPIEGEL Online in dieselbe Kerbe: „Für alle, die den Kopf schütteln über die Frau, die zu ihrem Schläger zurückkehrt, hat Rihanna mit ‚Nobody’s Business’ eine fröhliche Uptempo-Nummer parat, die sie – bam! – mit Chris Brown im Duett singt: ‚You’ll always be my boy, sing it to the world’. Vergeben und vergessen ist jedoch nicht alles, daher rührt wohl der nüchterne Tonfall, der viele ihrer neuen Lieder durchzieht: ‚Your love hit me to the core/ I was fine til you knocked me to the floor’, singt Rihanna in ‚No Love Allowed’, ‚I pray that love don’t hit twice’ heißt es in ‚Love Without Tragedy’.“

Ich meine: Nix „bam!„, nix „hat es in sich“, sondern – zoingggg! – alles Quatsch! Browns Prügelattacke ist doch bald vier Jahre her, und es wurde  – gähn! – schon früheren Rihanna-Songs ein Aufarbeitungsimpuls nachgesagt. Tatsächlich kokettiert die Sängerin hier nur, und zwar mittels handelsüblicher R&B-Lyrics-Klischess. Das Song-Ich ist nicht Rihanna, sondern ein „Gebrauchs-Ich“ – und der Rest ist Standardmetaphorik.

http://www.vevo.com/watch/keri-hilson/knock-you-down/USUV70900883

„Du haust mich um“, das ist selbst im Deutschen eine gängige Formel fürs Verliebtsein, ebenso wie „Das hat mich völlig umgehauen“ eine echte „Niedergeschlagenheit“ bedeuten kann, zum Beispiel wegen einer Trennung. Im modernen R&B-Song wird das teilweise noch drastischer ausgedrückt – da werden aus Amors Pfeilen schon mal Pistolenkugeln. Die von Borcholte auf SPIEGEL Online zitierte Textzeile lautet vollständig: „Like a bullet your love hit me to the core / I was flying ‚til you knocked me to the floor.“ In Knock You Down, einem Song von Keri Hilson und den Rappern Kanye West und Ne-Yo, lässt Ne-Yo seinen Sprecher in ähnlichen Bildern von einer tollen Frau berichten, die ihn mit ihrer Liebe vom Himmel geschossen und seinem bisherigen Leben ein Ende gemacht habe: „Oooh, she shot me out the sky (…) she shot the bullet that ended that life.“ Kanye West, der offenbar den Nebenbuhler verkörpert, packt dessen Eifersucht und Hass in die Worte: „Keep rockin’, and keep knockin’ (…) You see the hate, that they’re servin on a platter“. Und Keri Hilson, als hin und her gerissenes Objekt der Begierde, erinnert sich an die erste Begegnung mit einem der beiden: „And you came in and knocked me on my face“, wohl kaum im Prügelsinn, sondern eher à la: „Du fielst mir sofort ins Auge…“ Später heißt es: „Boy, you came around and you knocked me down“, also  „Du bist aufgetaucht und hast mich umgehau’n.“ Der Refrain schließlich formuliert im Hinblick aufs Verliebtsein, aber auch mit Bezug auf Liebesqualen: „Sometimes love comes around, and it knocks you down…“ – „Manchmal packt dich die Liebe, und du bist total am Boden.“

Solche Verse sind R&B-Standard. Verarbeiten also viele R&B-Stars schlimmste Erfahrungen mit häuslicher Gewalt? Sind das alles Bekannte von Chris Brown? Nö. Viel eher verpacken sie die Aufs und Abs der Liebe, den vielzitierten Kampf der Geschlechter, in die immerselben drastischen Bilder.

Zwei der wenigen Songs, die TATSÄCHLICH häusliche Gewalt thematisieren KÖNNTEN, finden sich ausgerechnet bei den nur scheinbar so lieblichen Cardigans aus Schweden: And Then You Kissed Me aus dem Jahr 2003 und And Then You Kissed Me II von 2005. Auch hier wird die Liebe als unerklärliche romantische Macht, als „powerful force“, beschrieben, die einen umhaut; aber da sind auch Formulierungen wie „halo around my eyes“ („Veilchen um meine Augen“), „black and blue“ (deutsche Entsprechung: „grün und blau“), „You hit me really hard“ („Du hast wirklich fest zugeschlagen“) in Teil 1 und „It’s a mystery how people behave! / How we long for a life as a slave“ („Es ist unerklärlich, warum sich Menschen so verhalten! / Warum wir uns nach einem Leben in Sklaverei sehnen“) oder „It’s always you, the hardest hitter that I ever knew“ („Es geht für mich immer um Dich, den härtesten Schläger, den ich bisher gekannt habe“) in Teil 2. Solche Worte lassen schon eher darauf schließen, dass Schlimmeres als bei Keri Hilson und Rihanna zur Sprache kommt: eine verhängnisvolle Paardynamik, eine Frau, die von ihrem schlagenden Mann nicht loskommt. Cardigans-Sängerin Nina Persson hat laut Songfacts.com die „Häusliche Gewalt“-Ebene in den Songs bestätigt und gleichzeitig eingeräumt, dass sie selbst von so etwas glücklicherweise noch nie betroffen gewesen sei.

Bleibt das Duett Nobody’s Business, das Rihanna auf Unapologetical gemeinsam mit Chris Brown singt. Klar, man demonstriert, dass man wieder aufeinander zugekommen ist, sogar gemeinsam Musik macht. Aber präsentiert Rihanna auf demselben Album nicht auch Duette mit Eminem, David Guetta oder Mikky Ekko? Solche Duette gehören ebenfalls zum R&B-Business. In Nobody’s Business schmachtet sich ein Liebespaar mit denselben Worten gegenseitig an. Es geht im hiphoptypischen Prahl- und Statussymboleerwähn-Stil um gemeinsame Autofahrten in Nobelkarossen („Let’s make out in this Lexus“), um nicht weniger als die perfekte Liebe und darum, dass man sich gegenseitig den Weg weist („Your love is perfection, please point me in the right direction“). Im übrigen gehe diese Liebe niemanden etwas an, so der Refrain, sie sei eben „nobody’s business“. Sollen die anderen doch reden – denkt sich das nicht jedes Liebespaar? Intensive Nabelschau? Keine Anzeichen. Daran würde auch eine wirkliche neu entflammte Beziehung der beiden Interpreten nichts ändern.

Wer hier unbedingt nach versteckten Hinweisen suchen will, den könnte noch folgende unauffällige Songzeile aus Nobody’s Business interessieren: „A life with you I want, I wonder can we become love’s persona“ – „Ich will ein Leben mit Dir, und ich frage mich, ob wir beide vielleicht die Rolle/Maske der Liebe sein können.“ Ist das ein verunglücktes Sinnbild für: „Wir stehen für die Liebe“? Oder tut hier vielleicht die Liebe nur so, als sei sie das Paar aus dem Song, als sei sie gar Rihanna & Chris Brown? Wenn die Liebe aber nur eine Make trägt, dann nimmt sie das Publikum gewaltig auf den Arm…