Dass Frankreich eine Menge aufregender Popmusik zu bieten hat, haben wir schon immer geahnt. Nur gab es bisher für Fans kaum Mittel und Wege, sich diese Schätze grundlegend zu erschließen. Der Kulturjournalist André Boße hat nun Abhilfe geschaffen: Sein Buch Voyage, Voyage bietet in Kombination mit einer eigens angelegten Spotify-Playlist einen wunderbaren Überblick über „French Pop“ & Co.
Ein Mann streift suchend durch den Wald. Er trägt ein blaues Jackett, schaut zwischendurch auf sein Handy. Schnitt. Eine Frau streift suchend durch den Wald. Sie trägt einen braunen Herbstmantel, schaut traurig und etwas missmutig drein. Schnitt. Wieder der Mann. Schnitt. Und wieder die Frau. So geht das etliche Male hin und her. Der Wald ist mal durch saftiges Grün gekennzeichnet, mal wirken die Bäume abgestorben wie im Herbst oder Winter. Ein schwarzer Esel kommt ins Bild, später eine weiße Ziege. Die Tiere ziehen weiter. Irgendwann haben sich der Mann und die Frau niedergelassen. Nebel kommt auf und lässt erst die Frau, dann den Mann verschwinden. Okay? Am Ende sehen wir einen kleinen Scheiterhaufen im Wald, die Flammen lodern hoch. Plötzlich betritt der Mann die Szenerie, die Frau kommt dazu. Aber: Die beiden kommen sich nicht wirklich nah. Zwar sind sie endlich im Bild vereint, doch steht das Feuer zwischen ihnen. Dazu erzählt eine sanfte Gesangsstimme von einer großen Liebe, über die nie gesprochen wurde und die es nie gab. Die wunderschöne Melodie wird getragen von einem sehnsüchtigen Klavier- und Streicher-Arrangement, das Stück hält die Balance zwischen Leichtigkeit und Schwere. Wehmut pur.
Der 2017 erschienene Song Le Grand Amour und das dazugehörige Musikvideo spiegeln die Essenz der französischen Popmusik. Große Themen, die in eigenwilligen poetischen Bildern verhandelt werden, mit einer gewissen Portion Pathos, aber auch mit leiser Ironie. Musikalisch vertraut und doch mit einem Schuss Exzentrik. Dahinter offenbart sich eine existenzielle Einsamkeit: das Gefühl, dass wahres Glück und echte Erfüllung letztlich unerreichbar sind, der Mensch aber immer wieder verzweifelt danach suchen muss. Le Grand Amour, realisiert von Albin de la Simone, ist ein Stück Pop, wie es nicht in Großbritannien, nicht in den USA und auch nicht in Deutschland, sondern nur in Frankreich entstehen konnte. Dieselben Elemente prägen viele weitere Songs aus unserem Nachbarland, egal ob es sich um kraftvolle Chansons oder dräuenden Rock, um quirlige Dance- oder versponnene Elektronik-Stücke handelt.
Fälliger Rundumschlag
Zu meiner Einschätzung bin ich nach der Lektüre von Voyage, Voyage gelangt. Vor Erscheinen dieses Buchs war es kein leichtes Unterfangen, sich die französische Popmusik grundlegend zu erschließen. Schließlich gab und gibt es hierzulande kaum Institutionen, die sich auf Pop aus Frankreich spezialisiert haben – die einordnen und Empfehlungen geben, essenzielle Werke auch mal anspielen könnten. Mit Voyage, Voyage liegt nun endlich eine wunderbare Alternative vor. Das Buch stammt aus der Feder von André Boße, Autor für renommierte Medien wie „Musikexpress“, „MINT“, „Visions“, „ZEIT“ und das Interviewmagazin „Galore“. Boße hat den Bedarf erkannt und sein eigenes Frankreich-Faible in aufwendige Recherchen und erfüllende Listening-Sessions kanalisiert. Das so erworbene Wissen gibt er in lockerem Erzählton weiter. Es ist der längst überfällige Rundumschlag zum Thema französische Popmusik. Kombiniert mit einer eigens erstellten Spotify-Playlist, die das Gelesene sofort erkunden, überprüfen und vertiefen lässt, bietet Voyage, Voyage einen exzellenten Crashkurs. Dass man bald auf eigene Faust weitererkundet und dabei schließlich auch die oft sehr eigenwilligen Videos zu den Songs entdeckt, ist eine logische Folge.
Von daher ist es überhaupt kein Problem, dass der Autor, wie er einräumt, eine subjektive Auswahl an Interpreten und Songs getroffen hat und überhaupt keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Die wichtigsten Namen und Titel hat er dennoch drin, da darf man sicher sein. Und wenn man sich fragt, warum etwa ein Charles Aznavour oder ein Gilbert Becaud keine exponierte Erwähnung finden, dann tauchen sie auch schon in einer Randbemerkung auf. Wer einen bestimmten Act dann wirklich schmerzlich vermisst, hat ihn sich schnell selbst erschlossen. Kontext zur Einordnung liefert Voyage, Voyage genug.
Plattenladen in Buchform
Ganz bewusst verspricht der Untertitel des Buchs keine „Geschichte der französischen Popmusik“. Das hätte womöglich mehrere Bände er- und das interessierte Publikum überfordert. Nein, Boße unternimmt „Eine Reise durch die französische Popmusik“ und kommt dabei dem Prinzip des Plattenladens ziemlich nahe. Da gibt’s gleich zu Beginn, als Eyecatcher gewissermaßen, Fächer wie „Serge Gainsbourg“ und „Die Lieblinge der Deutschen“ – was sofort das Interesse weckt und die Leserschaft „abholt“, wie man in Mediensprech sagt. Vom Großmeister des französischen Popsongs und erst recht von Top-Acts wie France Gall, Francoise Hardy, Desireless und Vanessa Paradis, von Les Rita Mitsouko und Zaz hat schließlich fast jeder Musiclover hierzulande schon gehört. Mit dem Vertrauten im Ohr und angeregt durch Neugier weckende Infos, die man so noch nicht kannte, ist man bereit, sich den anschließenden Genre- und Schwerpunktfächern zuzuwenden: von den „Individualisten“ und den „Chanteurs“ über „Pop“, „Rock und Punk“ bis hin zur „Nouvelle Scène“, zu „Folk“, „Elektronik“, „Hip-Hop“ und „Rai“. Auch die sogenannten YéYé-Jahre, die französische Beat-Ära der Sixties, wird mit Beispielen erwähnt.
In diesen „Fächern“, das heißt Kapiteln, finden sich dann Unmengen von Bands, Interpretinnen und Interpreten, die mal mehr, mal weniger ausführlich abgehandelt werden. Tatsächlich lässt sich der größte Teil des Buchs als Ansammlung von Biografien beschreiben. Aber: Künstlerbios – ist das auf Dauer nicht langweilig? Keineswegs. Was diese Texte lesenswert macht, sind die flüssige Schreibe, viele spannende Anekdoten und natürlich die persönlichen Tipps und Einschätzungen, die der Autor zu bestimmten Alben und einzelnen Hits gibt. Häufig werden auch zentrale Textzeilen zitiert und übersetzt, was feine Eindrücke von den Songthemen und -motiven vermittelt. Gerade bei den Kurzbiografien erweist sich die Kombination mit der Spotify-Playlist als gelungen. Man möchte vielleicht auch nicht allzu viel über diesen oder jenen hierzulande wenig bekannten Act erfahren – doch der eine Song, der da so euphorisch gelobt wird, den möchte man gern mal hören. Ein, zwei Klicks, schon hat man ihn im Ohr.
Eigenartige Faszination
Die ausführlicheren, sich über mehrere Buchseiten erstreckenden Biografien haben dann durchaus auch den Charakter von Lesestücken. Hier erfährt man viel Skurilles und Lustiges über einzelne Stars, allerdings auch Verstörendes und Tragisches. Es geht um Sonderlinge und Exzentriker, Abstürze und Drogen, um grandios gescheiterte Liebesbeziehungen, um Klatsch und Tratsch. Ja, sogar von Totschlag ist zu lesen. Nach der Lektüre und etlichen kürzeren oder längeren Hörsessions hat man einen wunderbaren Überblick und ganz bestimmte Assoziationen zu französischer Popmusik, zum Beispiel: Leidenschaft; die große Geste; ein starkes soziales Bewusstsein gepaart mit einer gewissen Renitenz, einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Normen und der Obrigkeit; Starr- und Eigensinn; auch ein nicht unterzukriegender Machismo; der Hang zu hemmungslosem Klamauk wie zu verschwurbelten philosophischen Theorien; Lebensfreude, die Kunst zu genießen, gleichzeitig Lust am Skandal, an der „amour fou“, am Derangierten; und nicht zuletzt eine große Melancholie … Einzelne dieser Elemente oder mehrere in Kombination charakterisieren viele französische Acts und Songs. Aus den unzähligen Beispielen im Buch sei nur ein prägnantes erwähnt: Le vent nous portera von Noir Désir. Es ist einer dieser relativ einfach gestrickten mittelschnellen Mollakkord-Hämmer „made in France“, die mit ihrer wehmütig-sehnsüchtigen Stimmung direkt auf die Tränendrüsen drücken. Das Lied, 2001 ein Indie-Hit in Frankreich, Italien und Belgien, wurde oft gecovert, auch von der Schweizerin Sophie Hunger. Vor allem das unheimliche Video, das eine Auszeichnung als Musikvideo des Jahres einheimste, übt eine eigenartige Faszination aus. Mit Bertrand Cantat, dem Sänger der Band Noir Désir, ist ein düsteres Kapitel in der Geschichte der französischen Popmusik verbunden.
Und so lässt sich im Geiste mühelos eine Brücke schlagen – von der französischen Popmusik zum französischen Kino, das mit ähnlichen Eigenheiten aufwartet und ähnliche Reaktionen hervorruft. Ich denke an den buchstäblich bezaubernden magischen Realismus von Die Fabelhafte Welt der Amelie mit der hypnotischen Musik von Yann Tiersen. An Kopfschütteln verursachende Kultfilme wie Eric Rohmers Claires Knie, in dem nichts passiert, aber endlos über Liebe und Sex gequatscht wird. Ich denke an die wagemutigen Avantgarde-Streifen eines Jean-Luc Godard. An die faszinierend heikle Figurenkonstellation in Léon – Der Profi und die reizvollen Abgründe von Das Auge, an hoffnungslos überdrehte Agentenfilmparodien wie OSS 117 und Le Magnifique oder die reichlich oberflächlichen, aber extrem eleganten Überwältigungskino-Bockbuster eines Luc Besson. Vielleicht lässt hier die französische Comics- und Graphic-Novel-Tradition grüßen? Wie Besson außerdem seine weiblichen Hauptdarstellerinnen inszeniert, das hat etwas von Liebeserklärungen mit der Kamera – ein landestypisches Phänomen, das sich von Francois Truffaut bis Francois Ozon durchs französische Kino zieht und im Ausland schon mal für Belustigung, wenn nicht gar Augenrollen sorgt. Selbst für cineastische Zumutungen wie Das große Fressen, den Vergewaltigungsfilm Irreversibel und das Bodyhorror-Deama Titane gilt: Diese Filme lassen uns nicht kalt. Um den Gedanken abzuschließen: Französische Musiker wie Musikerinnen, so mein persönlicher Eindruck, stehen ihren Gegenparts hinter der Kamera an Verrücktheiten in nichts nach.
Schillerndes Puzzle
Da Boße keine Geschichtsschreibung betreibt, nicht chronologisch vorgeht, ergibt sich das Gesamtbild „Französische Popmusik“ für die Lesenden wie ein Puzzle – es setzt sich Stein für Stein zusammen. Übergreifende Betrachtungen und Zusammenfassungen spart sich der Autor, vielleicht weil er auf die Neugier und die Kombinationsfähigkeit seines Publikums vertraut. So offenbaren sich eher zwischen den Zeilen spezifisch französische historische Zusammenhänge – und lassen sich spezifische Merkmale französischer Popmusik herausfiltern. Zum Beispiel:
- Französische Künstlerinnen und Künstler haben oftmals bewegte Biografien – Ausgrenzungserfahrungen und leidenschaftliches Durchbeißen gehören dazu.
- Das Raue der Bretagne und die Anmut der Provence prägen Pop aus Frankreich ebenso wie die quirlige Betriebsamkeit der großen Städte und die Musik der Maghreb-Staaten, mit denen die „Grande Nation“, die tatsächlich nur Nichtfranzosen so nennen, auf schicksalhafte Weise geschichtlich verbunden ist.
- Pop aus Frankreich setzt stark auf Poesie, zum Teil mit wilder Metaphorik.
- Französische Künstlerinnen und Künstler bewegen sich mühelos zwischen unterschiedlichsten Genres: Jazz, Chanson und Rock, dazu seichte Unterhaltung, alles ist möglich. Selbst synthetischer Pop gehört beinahe selbstverständlich dazu.
- Französische Popstars mögen Duette – fast jeder und jede hat schon mal mit jedem und jeder gesungen.
- Immer wieder gab und gibt es spannende Kollaborationen mit britischen oder US-amerikanischen Stars – an dieser Stelle sei nur La Caravane von Brigitte Fontaine und Grace Jones erwähnt.
- Die im angloamerikanischen Raum entwickelten Genres und Stile werden gern aufgegriffen, aber selten mit letzter Konsequenz und Hingabe gepflegt oder bedient – die „Vorbilder“ bekommen häufig einen „French Touch“ verpasst, werden gebrochen, auch mal persifliert.
- Viele Stars aus Frankreich haben ein bemerkenswertes Output, das heißt eine beeindruckende Zahl an Alben und Songs veröffentlicht.
- Darunter befinden sich erstaunlich viele Livealben.
- Französische Popstars haben häufiger Liebesbeziehungen miteinander als Popstars in anderen Ländern, zumindest ist das der Eindruck, der bei der Lektüre des Buchs entsteht.
- Trotz vieler Namen und Entwicklungen vermittelt das Buch das Bild einer relativ kompakten und harmonischen Musikszene. Bei aller Kritik und Innovationsfreude begegnet man sich größtenteils mit Respekt – Kollaborationen finden ganz selbstverständlich und auch über Generationen hinweg statt.
- Serge Gainsbourg geistert durch das gesamte Buch. Schon erstaunlich, bei wie vielen Projekten er seine Hände im Spiel hatte – wie wichtig er für die französische Popmusik war und ist. Noch als Sample in einem Stück des Rappers MC Solaar hinterlässt er seine Spuren.
- Pop aus Frankreich kann auch vulgär sein – bei aller Poesie nimmt man nur zu gern kein Blatt vor den Mund.
- Immer wieder entpuppen sich Stars als anstrengende Exzentriker und Exzentrikerinnen, die gewaltig nerven. Und doch wird ihnen vieles verziehen. Die Franzosen lieben ihre Stars.
So entsteht nach und nach der Eindruck eines vielfältigen und doch recht geschlossenen französischen Pop-Universums. Gefühlt eine große Mehrheit der französischen Stars singt auf Französisch und wird dafür gefeiert und verehrt, manche Tonträger-Verkaufszahlen scheinen astronomisch. Französische Acts und ihre Fans, das ist möglicherweise eine noch viel engere Bindung als die zwischen deutschen Stars und ihrer Anhängerschaft. Vielleicht liegt es daran, dass Frankreich eins der Länder mit einer Radioquote ist: Ein hoher Prozentsatz der Songs, die im Nachbarland im Radio gespielt werden, muss aus französischer Produktion stammen beziehungsweise in französischer Sprache vorgetragen sein. Boße geht auf diese Thematik nicht weiter ein, aber das muss er auch nicht. Denn im Mittelpunkt stehen die entscheidenden Persönlichkeiten und Songs.
Der Text ist wichtiger als die Musik
Als Einstieg in sein Buch stellt Boße „Sieben Thesen“ zur französischen Popmusik vor – einige davon finde ich sehr erhellend. „Das Chanson entsteht aus Mangel an Volksmusik“ etwa erklärt, wie nach der Französischen Revolution Kultur zentralisiert und die Provinz kulturell ausgehungert wurde – ein Prozess, dem „das Volk“ mit der Entwicklung der bis heute einflussreichen und „typisch französischen“ Form des Chansons entgegenwirkte. Die These erinnert mich an Gedanken zum deutschen Schlager, den es in dieser Form ja ebenfalls nirgendwo anders auf der Welt gibt: Er sei, so Musikfachleute, als ausschließlich deutsche musikalische Spielart nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Die Argumentation: Während andere Länder eine durchgängige, homogene populärmusikalische Tradition aufweisen, mit Stars, die seit jeher mühelos zwischen Jazz, Pop, anspruchsvollem Lied und seichter Unterhaltungsmusik changieren, hatte der Nationalsozialismus diese Tradition in Deutschland brutal gekappt. So entstand ab den Fünfzigerjahren eine beinahe hermetisch abgeschlossene neue, künstliche Heile-Welt-Musik, die sich bis heute als eigenständiges Genre „Schlager“ hält.
Durch Boßes These „Der Text kommt vor der Musik, das Ich vor allen anderen“ ist mir endlich bewusst geworden, was mich bisher an französischer Musik gelegentlich irritiert hat: Es ist die Fixierung der Auteurs und Stars auf den Text. Sie führt dazu, dass die Stimme gern in den Vordergrund gemischt wird und die Singenden ihre umfangreichen Lyrics nicht nur eindringlich, sondern auch sehr präzise intonieren – denn sie wollen, dass man jedes poetische Bild, jede Befindlichkeitsäußerung bis ins letzte Detail erfasst. So erzeugt selbst das leiseste Raunen, Hauchen oder Flüstern eine Intensität, gar eine Intimität, die bei der Hörerschaft schon mal eine Abwehrreaktion provoziert, erst recht wenn es im Song um Seelen-Striptease und schwierige Beziehungen geht. Nach dem Motto: So genau wollte ich es gar nicht wissen.
Entsprechend verweist die These „Wenn alles geht, geht auch vieles schief“ auf das interessante Phänomen, dass ein toller Text nicht vor musikalischen Fehltritten schützt. In der Tat ertappe ich mich gelegentlich dabei, dass ein Song aus Frankreich, dem von Kennern ein großartiger Text bescheinigt wird, eher langweilig, bisweilen sogar musikalisch peinlich auf mich wirkt. Nicht wenige französische Songs haben ein, zwei fantastische rhythmische, melodische, harmonische Ideen, belassen es dann aber dabei. Es reichen die etablierte Formel, die man beim Hören nach spätestens eineinhalb Minuten erfasst hat, und die geschickt erzeugte Gesamtatmosphäre – dann wird eher wiederholt oder variiert. Besonders auffällig ist das bei den Gassenhauern von Elektronik-Dance-Acts wie Daft Punk und Stardust: spektakuläre Beats und Sounds, keine Frage, aber doch recht schnell ermüdend redundant. Was kompositorische Finesse, Vortragsstil, Arrangements und Soundtechnik betrifft, passiert in Popmusik angloamerikanischer und – ich lehne mich aus dem Fenster – auch deutscher Prägung meines Erachtens im Schnitt etwas mehr.
Mein „Lieblingsfranzose“
Das soll nicht falsch verstanden werden. Natürlich ist auch die französische Popmusik wunderbar vielfältig und kreativ – nicht umsonst habe ich mir parallel zur Lektüre von Voyage, Voyage eine eigene Playlist mit neuen Lieblingstiteln angelegt, unter anderem von Veronique Sanson und France Gall, Indochine, Eiffel, Barbara Carlotti und Superstar Benjamin Biolay. Dennoch bleibt die Fixierung auf den Text, die meines Erachtens hier und da auch zur Vernachlässigung der musikalischen Raffinesse oder zu Leerlauf führt, ein nicht ganz beiseitezuschiebender Aspekt. Auch insofern ist, und jetzt schlage ich den Bogen zurück zum Anfang dieser Rezension, musikalisch gesehen Albin de la Simone mein „Lieblingsfranzose“. Er hat, natürlich, den „French Touch“. Aber: Er singt ein wenig verhaltener als viele seiner Landsleute, seine Stimme scheint organischer eingebettet in die Musik, die zudem mit spannenden harmonischen Wechseln, mit fantasievollen Arrangements und einer Fülle an betörenden Melodien aufwartet. Ganz abgesehen von den klugen, charmanten Texten.
Albin de la Simone, der gern neugierig über den French-Pop-Tellerrand hinausschaut und den eingangs erwähnten Song Le Grand Amour vielleicht auch mit einem kleinen Augenzwinkern auf den Weg bringt, habe ich schon vor ein paar Jahren für mich entdeckt. Nicht weil ich ein besonders toller Musikkenner wäre, sondern schlicht durch Zufall, via Facebook. Dass er in André Boßes Buch an exponierter Stelle auftaucht – als namentlicher Eintrag, als Mitwirkender bei diversen Produktionen von Kolleginnen und Kollegen sowie, neben anderen Stars, als kompetenter Gesprächspartner des Autors – freut mich sehr. Wie auch das gesamte Buch reichlich Anlass zur Freude bietet. Um es kurz zu machen: Wer sich wirklich ernsthaft für französische Popmusik interessiert, kommt, selbst wenn schon einiges an Vorkenntnissen besteht, an Voyge, Voyage nicht vorbei.
André Boße, Voyage, Voyage: Eine Reise durch die französische Popmusik.
Reclam 2024. Klappenbroschur, Format: 13,5 × 21,5 cm, 352 S., 27 Abb.
ISBN: 978-3-15-011468-1. 20 Euro