Von der Rolle

Kaum zu glauben: Die kanadische Band SAGA hatte ich in den letzten Jahrzehnten komplett vergessen. Und ich meine wirklich: komplett. Bis sie sich für einen Zwischenstopp in Bad Vilbel ankündigte. Nach mehreren überraschenden Hörsessions und einem feinen Konzert ist alles wieder da. Und das ist gut so.

Kennen Sie Jason Bourne? Das ist der Kino-Actionheld, der schwer verletzt und ohne Erinnerung aus dem Mittelmeer gefischt wird und seine Identität wiederentdecken muss. Unter anderem findet er heraus, dass er Teil eines Geheimprojekts der CIA war. Was das mit „tedaboutsongs“ zu tun hat? Nun, zumindest mit Blick auf die Musik habe ich mich zuletzt tatsächlich ein bisschen wie Jason Bourne gefühlt. Ich hatte es lange vergessen und musste neu entdecken: Ich war mal Fan von SAGA.

Es fing damit an, dass vor einiger Zeit Wind Him Up, SAGAs großer Hit von 1981, wieder verstärkt im Radio gespielt wurde. Hatte ich schon mal gehört, gefiel mir. Meine Frau sagte, sie fände SAGA gut, und als es hieß, die kanadische Band komme mal wieder zu Konzerten nach Deutschland, erkundigten wir uns nach Karten: paarunfünfzig Euro das Stück – bei den aktuellen Preisen ein echtes Schnäppchen. Uns war klar: So jung und so günstig kommen SAGA und wir nicht mehr zusammen. Also entschieden wir uns für einen Besuch des Konzerts in Bad Vilbel.

Ich fand kein einziges SAGA-Album in meinem Plattenregal, keinen einzigen SAGA-Song in meiner iTunes-Mediathek … und abgesehen von Wind Him Up, diesem vermeintlichen One-Hit-Wonder, nicht den Hauch einer Spur in meinem Gedächtnis. Schlimmer noch: Phasenweise verwechselte ich die Band sogar mit einer anderen Band aus Toronto, nämlich Rush. Und die waren bei aller Virtuosität immer etwas anstrengend gewesen. Dem SAGA-Konzert sah ich daher mit einer gewissen Neugier entgegen, der Bereitschaft, mich mal wieder überraschen zu lassen. Bis wir eines launigen Abends auf die schöne Idee kamen, uns via YouTube auf das Konzert in Bad Vilbel einzustimmen. Beim ersten Stück, das wir hörten, klingelte noch nichts. Doch dann fügten sich die Puzzlestücke immer rascher zusammen. Wie bei Jason Bourne kehrte Schritt für Schritt die Erinnerung zurück. Plötzlich konnte ich komplizierte Breaks auf der Tischplatte mitvollziehen, per Luftgitarre und imaginiertem Keyboard schwindelerregende Soli und Doppelsoli „mitspielen“, den einen oder anderen Refrain mitsingen. Es war erstaunlich: Ich kannte ziemlich viel von SAGA. Und ich mochte es.

Es dauerte dann noch ein paar Tage, bis ich in etwa zuordnen konnte, wann und in welchem persönlichen Umfeld ich mit SAGA in Berührung gekommen war. Wer damals all die Alben besessen hatte, weiß ich nicht mehr, aber offenbar hatten wir in besagter Clique das Zeug zusammen rauf und runter gehört, vermutlich habe ich sogar mal Audiocassetten mit Songs oder Alben von SAGA gehabt. Der Grund für meinen kleinen Amnesieschub? Unklar. Vielleicht liegt es am persönlichen Lebensweg, am Weltgeschehen und an dem, was an aufregender Musik bis heute dazugekommen ist. Da blendet man Details von früher irgendwann aus.

Die große Zeit von SAGA waren die späten Siebziger- bis frühen Neunzigerjahre. Es war die Zeit, in der die Popmusik immer neue Genres, Stile und Substile hervorbrachte, von Punk, Wave und Indierock, Gothic-Rock und Metal über Synthipop und Ambient/Electronica bis hin zu Techno, Trance und House, Drum and Bass, Nu Soul und Rap. SAGA atmeten den Geist von großen Siebziger-Rock- und Artrock-Bands wie Blue Öyster Cult, Wishbone Ash, Genesis, Gentle Giant oder Emerson, Lake & Palmer, kamen aber aufgeräumter, graziler und mit modernerem Sound, etwa Moog-Bass und Synthi-Drums, daher. Gleich mehrere Bandmitglieder, inklusive Frontmann Michael Sadler, waren tastenerprobt, bald gaben ihnen angesagte Topproduzenten wie Rupert Hine den letzten Schliff. Und gerade Michael Sadler hatte einen smarten New-Romantic-Posterboy-Appeal, man schaue sich im Netz kursierende Live-Auftritte aus den Achtzigern an. Wer also aufwendig produzierte Power-Acts wie Foreigner, Toto, Duran Duran oder die eleganten Waverocker The Fixx liebte und es hin und wieder etwas vertrackter, sinfonischer brauchte, wurde von SAGA bestens bedient. So sehr ich auf all die gitarrenorientierten und vollelektronischen Strömungen der damaligen Zeit abfuhr, ich hatte und habe immer auch ein Faible für diesen fein produzierten hochästhetischen Kunstbombast, der Staunen macht und gleichzeitig berührt.

Und jetzt habe ich auch noch die Songtexte von SAGA für mich entdeckt. Damals hatten die spektakulär verspielte Musik und das Fantasy-Artwork der Albumcovers einfach von ihnen abgelenkt. Doch neulich, bei entspannter Neubewertung, fiel mir auf, dass sich auch und gerade die größten SAGA-Hits nicht etwa mit Elfen, Schwertern oder Science-Fiction-Motiven auseinandersetzen, sondern mit sehr ernsten Themen wie Sucht und seelischen Krisen. Jener Protagonist etwa, der da wie aufgezogen durch besagten Hit Wind Him Up geistert, ist der Spiel- und Alkoholsucht erlegen: „Once he starts it’s hard to stop …“ Hinter Humble Stance mit seinen trügerischen Schunkel-Folk-Passagen mag man einen Aufruf zur Demut vermuten, tatsächlich aber geht es darum, dass wer sich klein macht im Leben und zu viel Demut, zu viel Angst zeigt, nicht weit kommen wird: „That humble stance and timid glance makes your world turn so slow / You know, you gotta know / There‘s no one going to help you.“ Wo das hymnische On the Loose im ersten Moment an losgelöstes Feiern und grenzenloses Selbstbewusstsein denken lässt, geraten in Wahrheit Menschen aus dem Gleichgewicht. Zitat: „I see the problem start / I watch the tension grow / I see you keeping it to yourself / And then instead of reaching conclusions / I see you reaching for something else.” Und dann der ernüchternde Refrain: „Noone could stop you now / Tonight you’re on the loose.“ Das etwas ruhigere Stück Time’s Up wiederum warnt davor, tagträumend Chancen zu vertun, und Tired World beschwört eine düstere Endzeitstimmung herauf – nur weil die Menschheit unfähig war, die Welt zu retten. Sänger Michael Sadler litt lange Jahre unter Alkoholsucht, die Band erlebte viele Höhen und Tiefen. Wer weiß, wie viel davon in die Lyrics eingeflossen ist. Insofern sind die von hartgesottenen Indie- und Underground-Fans gern belächelten „Schöngeister“ SAGA mehr Rock ’n’ Roll als manche ihrer scheinbar „taffen“ Kollegen.

Zu den frühen Mitgliedern der Band gehören neben Sadler der Keyboarder Jim Gilmour und der Gitarrist Ian Crichton. Letzterer hatte sich vor der aktuellen Tour das Bein gebrochen. Prompt übernahm der 2018 eingestiegene Bassist Dusty Chesterfield, ein wahres Saiten-Wunderkind, die Gitarrenparts, und es wurde ein neuer Mitstreiter für die vier Saiten engagiert, sein Name ist allerdings nirgendwo im Netz zu finden. Sadler selbst hatte erst vor kurzem aufgrund einer Krebserkrankung operiert werden müssen. Ein Wunder also, dass SAGA diese Tour überhaupt durchziehen können – und ein Beispiel für Willen, Disziplin und Durchhaltevermögen, für Profitum und Flexibilität sowieso. Sadler, inzwischen ein hagerer Kahlkopf mit Rauschebart, ist am 5. Juli 70 geworden. In Bad Vilbel scherzte er zwischen den Songs mit dem deutlich jüngeren Dusty Chesterfield übers Altern. „Du musst lächeln und es ertragen“, gab er sinngemäß zu Protokoll. Die richtige Einstellung. Die Band hatte ihre ersten großen Erfolge in den Niederlanden und in Deutschland, nicht zuletzt hier war ihre Erfolgsgeschichte gestartet. Toll, dass Sadler dafür dem Publikum dankte, sogar mit Ausführungen auf Deutsch.

Und so gab es genügend Gründe, die Band bei ihrem Auftritt in Bad Vilbel zu feiern. Auch wenn Sadler nicht mehr jeden Gesangspart so kraftvoll beherrschte wie damals und der Sound hin und wieder etwas unausgeglichen wirkte, entwickelte das Quintett über zwei Stunden hinweg eine enorme Spielfreude. Die Hits und Bandklassiker, auf die man gehofft hatte, wurden gespielt. Jüngere Fans dürften sich über ein mehrminütiges Schlagzeugsolo von Mike Thorne gewundert haben, so etwas war im letzten Jahrtausend mal angesagt und Bestandteil jeder ordentlichen Rockshow. Die älteren Besucher wiederum, natürlich deutlich in der Überzahl, hatten Verständnis für den einen oder anderen ausufernden Instrumentalteil und unauffällige kleine Auszeiten Sadlers: So konnte sich der Frontmann schonen und bekam immer wieder Gelegenheit, Kraft zu schöpfen. Am Ende des regulären Sets wie nach der ersten Zugabe Wind Him Up gab es Standing Ovations, und die musste man den wackeren Kämpfern einfach gönnen. Wohl nicht ohne Grund lautet das Tourmotto „It Never Ends“.

Fotos: M. Behrendt

Crashkurs „Pop aus Frankreich“

Dass Frankreich eine Menge aufregender Popmusik zu bieten hat, haben wir schon immer geahnt. Nur gab es bisher für Fans kaum Mittel und Wege, sich diese Schätze grundlegend zu erschließen. Der Kulturjournalist André Boße hat nun Abhilfe geschaffen: Sein Buch Voyage, Voyage bietet in Kombination mit einer eigens angelegten Spotify-Playlist einen wunderbaren Überblick über „French Pop“ & Co.   

Ein Mann streift suchend durch den Wald. Er trägt ein blaues Jackett, schaut zwischendurch auf sein Handy. Schnitt. Eine Frau streift suchend durch den Wald. Sie trägt einen braunen Herbstmantel, schaut traurig und etwas missmutig drein. Schnitt. Wieder der Mann. Schnitt. Und wieder die Frau. So geht das etliche Male hin und her. Der Wald ist mal durch saftiges Grün gekennzeichnet, mal wirken die Bäume abgestorben wie im Herbst oder Winter. Ein schwarzer Esel kommt ins Bild, später eine weiße Ziege. Die Tiere ziehen weiter. Irgendwann haben sich der Mann und die Frau niedergelassen. Nebel kommt auf und lässt erst die Frau, dann den Mann verschwinden. Okay? Am Ende sehen wir einen kleinen Scheiterhaufen im Wald, die Flammen lodern hoch. Plötzlich betritt der Mann die Szenerie, die Frau kommt dazu. Aber: Die beiden kommen sich nicht wirklich nah. Zwar sind sie endlich im Bild vereint, doch steht das Feuer zwischen ihnen. Dazu erzählt eine sanfte Gesangsstimme von einer großen Liebe, über die nie gesprochen wurde und die es nie gab. Die wunderschöne Melodie wird getragen von einem sehnsüchtigen Klavier- und Streicher-Arrangement, das Stück hält die Balance zwischen Leichtigkeit und Schwere. Wehmut pur.

Der 2017 erschienene Song Le Grand Amour und das dazugehörige Musikvideo spiegeln die Essenz der französischen Popmusik. Große Themen, die in eigenwilligen poetischen Bildern verhandelt werden, mit einer gewissen Portion Pathos, aber auch mit leiser Ironie. Musikalisch vertraut und doch mit einem Schuss Exzentrik. Dahinter offenbart sich eine existenzielle Einsamkeit: das Gefühl, dass wahres Glück und echte Erfüllung letztlich unerreichbar sind, der Mensch aber immer wieder verzweifelt danach suchen muss. Le Grand Amour, realisiert von Albin de la Simone, ist ein Stück Pop, wie es nicht in Großbritannien, nicht in den USA und auch nicht in Deutschland, sondern nur in Frankreich entstehen konnte. Dieselben Elemente prägen viele weitere Songs aus unserem Nachbarland, egal ob es sich um kraftvolle Chansons oder dräuenden Rock, um quirlige Dance- oder versponnene Elektronik-Stücke handelt.

Fälliger Rundumschlag

Zu meiner Einschätzung bin ich nach der Lektüre von Voyage, Voyage gelangt. Vor Erscheinen dieses Buchs war es kein leichtes Unterfangen, sich die französische Popmusik grundlegend zu erschließen. Schließlich gab und gibt es hierzulande kaum Institutionen, die sich auf Pop aus Frankreich spezialisiert haben – die einordnen und Empfehlungen geben, essenzielle Werke auch mal anspielen könnten. Mit Voyage, Voyage liegt nun endlich eine wunderbare Alternative vor. Das Buch stammt aus der Feder von André Boße, Autor für renommierte Medien wie „Musikexpress“, „MINT“, „Visions“, „ZEIT“ und das Interviewmagazin „Galore“. Boße hat den Bedarf erkannt und sein eigenes Frankreich-Faible in aufwendige Recherchen und erfüllende Listening-Sessions kanalisiert. Das so erworbene Wissen gibt er in lockerem Erzählton weiter. Es ist der längst überfällige Rundumschlag zum Thema französische Popmusik. Kombiniert mit einer eigens erstellten Spotify-Playlist, die das Gelesene sofort erkunden, überprüfen und vertiefen lässt, bietet Voyage, Voyage einen exzellenten Crashkurs. Dass man bald auf eigene Faust weitererkundet und dabei schließlich auch die oft sehr eigenwilligen Videos zu den Songs entdeckt, ist eine logische Folge.

Von daher ist es überhaupt kein Problem, dass der Autor, wie er einräumt, eine subjektive Auswahl an Interpreten und Songs getroffen hat und überhaupt keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Die wichtigsten Namen und Titel hat er dennoch drin, da darf man sicher sein. Und wenn man sich fragt, warum etwa ein Charles Aznavour oder ein Gilbert Becaud keine exponierte Erwähnung finden, dann tauchen sie auch schon in einer Randbemerkung auf. Wer einen bestimmten Act dann wirklich schmerzlich vermisst, hat ihn sich schnell selbst erschlossen. Kontext zur Einordnung liefert Voyage, Voyage genug.

Plattenladen in Buchform

Ganz bewusst verspricht der Untertitel des Buchs keine „Geschichte der französischen Popmusik“. Das hätte womöglich mehrere Bände er- und das interessierte Publikum überfordert. Nein, Boße unternimmt „Eine Reise durch die französische Popmusik“ und kommt dabei dem Prinzip des Plattenladens ziemlich nahe. Da gibt’s gleich zu Beginn, als Eyecatcher gewissermaßen, Fächer wie „Serge Gainsbourg“ und „Die Lieblinge der Deutschen“ – was sofort das Interesse weckt und die Leserschaft „abholt“, wie man in Mediensprech sagt. Vom Großmeister des französischen Popsongs und erst recht von Top-Acts wie France Gall, Francoise Hardy, Desireless und Vanessa Paradis, von Les Rita Mitsouko und Zaz hat schließlich fast jeder Musiclover hierzulande schon gehört. Mit dem Vertrauten im Ohr und angeregt durch Neugier weckende Infos, die man so noch nicht kannte, ist man bereit, sich den anschließenden Genre- und Schwerpunktfächern zuzuwenden: von den „Individualisten“ und den „Chanteurs“ über „Pop“, „Rock und Punk“ bis hin zur „Nouvelle Scène“, zu „Folk“, „Elektronik“, „Hip-Hop“ und „Rai“. Auch die sogenannten YéYé-Jahre, die französische Beat-Ära der Sixties, wird mit Beispielen erwähnt.

In diesen „Fächern“, das heißt Kapiteln, finden sich dann Unmengen von Bands, Interpretinnen und Interpreten, die mal mehr, mal weniger ausführlich abgehandelt werden. Tatsächlich lässt sich der größte Teil des Buchs als Ansammlung von Biografien beschreiben. Aber: Künstlerbios – ist das auf Dauer nicht langweilig? Keineswegs. Was diese Texte lesenswert macht, sind die flüssige Schreibe, viele spannende Anekdoten und natürlich die persönlichen Tipps und Einschätzungen, die der Autor zu bestimmten Alben und einzelnen Hits gibt. Häufig werden auch zentrale Textzeilen zitiert und übersetzt, was feine Eindrücke von den Songthemen und -motiven vermittelt. Gerade bei den Kurzbiografien erweist sich die Kombination mit der Spotify-Playlist als gelungen. Man möchte vielleicht auch nicht allzu viel über diesen oder jenen hierzulande wenig bekannten Act erfahren – doch der eine Song, der da so euphorisch gelobt wird, den möchte man gern mal hören. Ein, zwei Klicks, schon hat man ihn im Ohr.

Eigenartige Faszination

Die ausführlicheren, sich über mehrere Buchseiten erstreckenden Biografien haben dann durchaus auch den Charakter von Lesestücken. Hier erfährt man viel Skurilles und Lustiges über einzelne Stars, allerdings auch Verstörendes und Tragisches. Es geht um Sonderlinge und Exzentriker, Abstürze und Drogen, um grandios gescheiterte Liebesbeziehungen, um Klatsch und Tratsch. Ja, sogar von Totschlag ist zu lesen. Nach der Lektüre und etlichen kürzeren oder längeren Hörsessions hat man einen wunderbaren Überblick und ganz bestimmte Assoziationen zu französischer Popmusik, zum Beispiel: Leidenschaft; die große Geste; ein starkes soziales Bewusstsein gepaart mit einer gewissen Renitenz, einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Normen und der Obrigkeit; Starr- und Eigensinn; auch ein nicht unterzukriegender Machismo; der Hang zu hemmungslosem Klamauk wie zu verschwurbelten philosophischen Theorien; Lebensfreude, die Kunst zu genießen, gleichzeitig Lust am Skandal, an der „amour fou“, am Derangierten; und nicht zuletzt eine große Melancholie … Einzelne dieser Elemente oder mehrere in Kombination charakterisieren viele französische Acts und Songs. Aus den unzähligen Beispielen im Buch sei nur ein prägnantes erwähnt: Le vent nous portera von Noir Désir. Es ist einer dieser relativ einfach gestrickten mittelschnellen Mollakkord-Hämmer „made in France“, die mit ihrer wehmütig-sehnsüchtigen Stimmung direkt auf die Tränendrüsen drücken. Das Lied, 2001 ein Indie-Hit in Frankreich, Italien und Belgien, wurde oft gecovert, auch von der Schweizerin Sophie Hunger. Vor allem das unheimliche Video, das eine Auszeichnung als Musikvideo des Jahres einheimste, übt eine eigenartige Faszination aus. Mit Bertrand Cantat, dem Sänger der Band Noir Désir, ist ein düsteres Kapitel in der Geschichte der französischen Popmusik verbunden.

Und so lässt sich im Geiste mühelos eine Brücke schlagen – von der französischen Popmusik zum französischen Kino, das mit ähnlichen Eigenheiten aufwartet und ähnliche Reaktionen hervorruft. Ich denke an den buchstäblich bezaubernden magischen Realismus von Die Fabelhafte Welt der Amelie mit der hypnotischen Musik von Yann Tiersen. An Kopfschütteln verursachende Kultfilme wie Eric Rohmers Claires Knie, in dem nichts passiert, aber endlos über Liebe und Sex gequatscht wird. Ich denke an die wagemutigen Avantgarde-Streifen eines Jean-Luc Godard. An die faszinierend heikle Figurenkonstellation in Léon – Der Profi und die reizvollen Abgründe von Das Auge, an hoffnungslos überdrehte Agentenfilmparodien wie OSS 117 und Le Magnifique oder die reichlich oberflächlichen, aber extrem eleganten Überwältigungskino-Bockbuster eines Luc Besson. Vielleicht lässt hier die französische Comics- und Graphic-Novel-Tradition grüßen? Wie Besson außerdem seine weiblichen Hauptdarstellerinnen inszeniert, das hat etwas von Liebeserklärungen mit der Kamera – ein landestypisches Phänomen, das sich von Francois Truffaut bis Francois Ozon durchs französische Kino zieht und im Ausland schon mal für Belustigung, wenn nicht gar Augenrollen sorgt. Selbst für cineastische Zumutungen wie Das große Fressen, den Vergewaltigungsfilm Irreversibel und das Bodyhorror-Deama Titane gilt: Diese Filme lassen uns nicht kalt. Um den Gedanken abzuschließen: Französische Musiker wie Musikerinnen, so mein persönlicher Eindruck, stehen ihren Gegenparts hinter der Kamera an Verrücktheiten in nichts nach.

Schillerndes Puzzle

Da Boße keine Geschichtsschreibung betreibt, nicht chronologisch vorgeht, ergibt sich das Gesamtbild „Französische Popmusik“ für die Lesenden wie ein Puzzle – es setzt sich Stein für Stein zusammen. Übergreifende Betrachtungen und Zusammenfassungen spart sich der Autor, vielleicht weil er auf die Neugier und die Kombinationsfähigkeit seines Publikums vertraut. So offenbaren sich eher zwischen den Zeilen spezifisch französische historische Zusammenhänge – und lassen sich spezifische Merkmale französischer Popmusik herausfiltern. Zum Beispiel:

  • Französische Künstlerinnen und Künstler haben oftmals bewegte Biografien – Ausgrenzungserfahrungen und leidenschaftliches Durchbeißen gehören dazu.
  • Das Raue der Bretagne und die Anmut der Provence prägen Pop aus Frankreich ebenso wie die quirlige Betriebsamkeit der großen Städte und die Musik der Maghreb-Staaten, mit denen die „Grande Nation“, die tatsächlich nur Nichtfranzosen so nennen, auf schicksalhafte Weise geschichtlich verbunden ist.
  • Pop aus Frankreich setzt stark auf Poesie, zum Teil mit wilder Metaphorik.
  • Französische Künstlerinnen und Künstler bewegen sich mühelos zwischen unterschiedlichsten Genres: Jazz, Chanson und Rock, dazu seichte Unterhaltung, alles ist möglich. Selbst synthetischer Pop gehört beinahe selbstverständlich dazu.
  • Französische Popstars mögen Duette – fast jeder und jede hat schon mal mit jedem und jeder gesungen.
  • Immer wieder gab und gibt es spannende Kollaborationen mit britischen oder US-amerikanischen Stars – an dieser Stelle sei nur La Caravane von Brigitte Fontaine und Grace Jones erwähnt.
  • Die im angloamerikanischen Raum entwickelten Genres und Stile werden gern aufgegriffen, aber selten mit letzter Konsequenz und Hingabe gepflegt oder bedient – die „Vorbilder“ bekommen häufig einen „French Touch“ verpasst, werden gebrochen, auch mal persifliert.
  • Viele Stars aus Frankreich haben ein bemerkenswertes Output, das heißt eine beeindruckende Zahl an Alben und Songs veröffentlicht.
  • Darunter befinden sich erstaunlich viele Livealben.
  • Französische Popstars haben häufiger Liebesbeziehungen miteinander als Popstars in anderen Ländern, zumindest ist das der Eindruck, der bei der Lektüre des Buchs entsteht.
  • Trotz vieler Namen und Entwicklungen vermittelt das Buch das Bild einer relativ kompakten und harmonischen Musikszene. Bei aller Kritik und Innovationsfreude begegnet man sich größtenteils mit Respekt – Kollaborationen finden ganz selbstverständlich und auch über Generationen hinweg statt.
  • Serge Gainsbourg geistert durch das gesamte Buch. Schon erstaunlich, bei wie vielen Projekten er seine Hände im Spiel hatte – wie wichtig er für die französische Popmusik war und ist. Noch als Sample in einem Stück des Rappers MC Solaar hinterlässt er seine Spuren.
  • Pop aus Frankreich kann auch vulgär sein – bei aller Poesie nimmt man nur zu gern kein Blatt vor den Mund.
  • Immer wieder entpuppen sich Stars als anstrengende Exzentriker und Exzentrikerinnen, die gewaltig nerven. Und doch wird ihnen vieles verziehen. Die Franzosen lieben ihre Stars.

So entsteht nach und nach der Eindruck eines vielfältigen und doch recht geschlossenen französischen Pop-Universums. Gefühlt eine große Mehrheit der französischen Stars singt auf Französisch und wird dafür gefeiert und verehrt, manche Tonträger-Verkaufszahlen scheinen astronomisch. Französische Acts und ihre Fans, das ist möglicherweise eine noch viel engere Bindung als die zwischen deutschen Stars und ihrer Anhängerschaft. Vielleicht liegt es daran, dass Frankreich eins der Länder mit einer Radioquote ist: Ein hoher Prozentsatz der Songs, die im Nachbarland im Radio gespielt werden, muss aus französischer Produktion stammen beziehungsweise in französischer Sprache vorgetragen sein. Boße geht auf diese Thematik nicht weiter ein, aber das muss er auch nicht. Denn im Mittelpunkt stehen die entscheidenden Persönlichkeiten und Songs. 

Der Text ist wichtiger als die Musik

Als Einstieg in sein Buch stellt Boße „Sieben Thesen“ zur französischen Popmusik vor – einige davon finde ich sehr erhellend. „Das Chanson entsteht aus Mangel an Volksmusik“ etwa erklärt, wie nach der Französischen Revolution Kultur zentralisiert und die Provinz kulturell ausgehungert wurde – ein Prozess, dem „das Volk“ mit der Entwicklung der bis heute einflussreichen und „typisch französischen“ Form des Chansons entgegenwirkte. Die These erinnert mich an Gedanken zum deutschen Schlager, den es in dieser Form ja ebenfalls nirgendwo anders auf der Welt gibt: Er sei, so Musikfachleute, als ausschließlich deutsche musikalische Spielart nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Die Argumentation: Während andere Länder eine durchgängige, homogene populärmusikalische Tradition aufweisen, mit Stars, die seit jeher mühelos zwischen Jazz, Pop, anspruchsvollem Lied und seichter Unterhaltungsmusik changieren, hatte der Nationalsozialismus diese Tradition in Deutschland brutal gekappt. So entstand ab den Fünfzigerjahren eine beinahe hermetisch abgeschlossene neue, künstliche Heile-Welt-Musik, die sich bis heute als eigenständiges Genre „Schlager“ hält.

Durch Boßes These „Der Text kommt vor der Musik, das Ich vor allen anderen“ ist mir endlich bewusst geworden, was mich bisher an französischer Musik gelegentlich irritiert hat: Es ist die Fixierung der Auteurs und Stars auf den Text. Sie führt dazu, dass die Stimme gern in den Vordergrund gemischt wird und die Singenden ihre umfangreichen Lyrics nicht nur eindringlich, sondern auch sehr präzise intonieren – denn sie wollen, dass man jedes poetische Bild, jede Befindlichkeitsäußerung bis ins letzte Detail erfasst. So erzeugt selbst das leiseste Raunen, Hauchen oder Flüstern eine Intensität, gar eine Intimität, die bei der Hörerschaft schon mal eine Abwehrreaktion provoziert, erst recht wenn es im Song um Seelen-Striptease und schwierige Beziehungen geht. Nach dem Motto: So genau wollte ich es gar nicht wissen.

Entsprechend verweist die These „Wenn alles geht, geht auch vieles schief“ auf das interessante Phänomen, dass ein toller Text nicht vor musikalischen Fehltritten schützt. In der Tat ertappe ich mich gelegentlich dabei, dass ein Song aus Frankreich, dem von Kennern ein großartiger Text bescheinigt wird, eher langweilig, bisweilen sogar musikalisch peinlich auf mich wirkt. Nicht wenige französische Songs haben ein, zwei fantastische rhythmische, melodische, harmonische Ideen, belassen es dann aber dabei. Es reichen die etablierte Formel, die man beim Hören nach spätestens eineinhalb Minuten erfasst hat, und die geschickt erzeugte Gesamtatmosphäre – dann wird eher wiederholt oder variiert. Besonders auffällig ist das bei den Gassenhauern von Elektronik-Dance-Acts wie Daft Punk und Stardust: spektakuläre Beats und Sounds, keine Frage, aber doch recht schnell ermüdend redundant. Was kompositorische Finesse, Vortragsstil, Arrangements und Soundtechnik betrifft, passiert in Popmusik angloamerikanischer und – ich lehne mich aus dem Fenster – auch deutscher Prägung meines Erachtens im Schnitt etwas mehr.       

Mein „Lieblingsfranzose“

Das soll nicht falsch verstanden werden. Natürlich ist auch die französische Popmusik wunderbar vielfältig und kreativ – nicht umsonst habe ich mir parallel zur Lektüre von Voyage, Voyage eine eigene Playlist mit neuen Lieblingstiteln angelegt, unter anderem von Veronique Sanson und France Gall, Indochine, Eiffel, Barbara Carlotti und Superstar Benjamin Biolay. Dennoch bleibt die Fixierung auf den Text, die meines Erachtens hier und da auch zur Vernachlässigung der musikalischen Raffinesse oder zu Leerlauf führt, ein nicht ganz beiseitezuschiebender Aspekt. Auch insofern ist, und jetzt schlage ich den Bogen zurück zum Anfang dieser Rezension, musikalisch gesehen Albin de la Simone mein „Lieblingsfranzose“. Er hat, natürlich, den „French Touch“. Aber: Er singt ein wenig verhaltener als viele seiner Landsleute, seine Stimme scheint organischer eingebettet in die Musik, die zudem mit spannenden harmonischen Wechseln, mit fantasievollen Arrangements und einer Fülle an betörenden Melodien aufwartet. Ganz abgesehen von den klugen, charmanten Texten.  

Albin de la Simone, der gern neugierig über den French-Pop-Tellerrand hinausschaut und den eingangs erwähnten Song Le Grand Amour vielleicht auch mit einem kleinen Augenzwinkern auf den Weg bringt, habe ich schon vor ein paar Jahren für mich entdeckt. Nicht weil ich ein besonders toller Musikkenner wäre, sondern schlicht durch Zufall, via Facebook. Dass er in André Boßes Buch an exponierter Stelle auftaucht – als namentlicher Eintrag, als Mitwirkender bei diversen Produktionen von Kolleginnen und Kollegen sowie, neben anderen Stars, als kompetenter Gesprächspartner des Autors – freut mich sehr. Wie auch das gesamte Buch reichlich Anlass zur Freude bietet. Um es kurz zu machen: Wer sich wirklich ernsthaft für französische Popmusik interessiert, kommt, selbst wenn schon einiges an Vorkenntnissen besteht, an Voyge, Voyage nicht vorbei.

André Boße, Voyage, Voyage: Eine Reise durch die französische Popmusik.
Reclam 2024. Klappenbroschur, Format: 13,5 × 21,5 cm, 352 S., 27 Abb.
ISBN: 978-3-15-011468-1. 20 Euro

Auch wenn es wehtut

Was wären internationale Fußballturniere ohne ihre offiziellen Songs? Der jeweilige Dachverband stellt einen, und auch die großen TV-Anbieter haben sich für ihre Berichterstattung auf verschiedene Hits festgelegt. Da stellt sich die Frage: Was taugen die diesjährigen Europameisterschafts-Songs?

Wovon sollen wir träumen? von Frida Gold ist ein starker Song. Ein echter Ohrwurm, der zum Abfeiern einlädt. Und doch gehört die Tatsache, dass das Stück 2011 vom ZDF zur Untermalung der „Bilder des Tages“ von der Frauen-Fußballweltmeisterschaft ausgewählt wurde, zu den größten Merkwürdigkeiten in der deutschen Fernsehgeschichte. Denn der Songtext transportiert keine positive und erst recht keine spitzensportkompatible Botschaft. Viel eher geht es um Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit, sogar um Abstürze und Essstörungen. Das Beispiel zeigt: Schwungvolle Musik und klare Mitsingpassagen allein reichen nicht aus, um einen Song als Turniersong zu qualifizieren – auch die Lyrics sollten passen. Zumindest atmosphärisch. Tatsächlich muss ein guter Fußballturniersong nicht explizit von Fußball handeln. Es reicht schon, wenn er ein paar positiv stimmende, motivierende Textzeilen enthält, am besten zu Themen wie Freundschaft und Gemeinschaft, Zusammenhalt. Das geht immer.

Provinz, Glaubst du

Insofern hat das ZDF bei der Entscheidung für den Song zum EM-Trailer 2024 alles richtig gemacht. Nicht nur dass mit Provinz eine aufstrebende, hippe deutsche Band ins Boot geholt wurde, die ein größeres Publikum verdient – auch ihr Song Glaubst du bringt alles mit, was ein Soundtrack für die Fußballberichterstattung braucht. Im Text geht es um jemanden, der einst der Enge seiner Heimat entkommen ist und ein bisschen Karriere gemacht hat, nun aber doch ganz euphorisch ist, die alten Freunde wiederzusehen und gemeinsam mit ihnen etwas zu unternehmen. Schließlich ist man schon immer füreinander da gewesen, hat einander vermisst und die Wege der anderen verfolgt. Jetzt weht das Haar im Fahrtwind, während man gemeinsam mit steigendem Adrenalinpegel aufregenden Events entgegenrauscht. Es fallen markante Zeilen wie „Glaubst du an mich? Ich glaub an dich“, „Und tragen mich mal meine Beine nicht, dann lauft ihr für mich doppelt“ oder auch „Kindheit, Kickplatz, alle Kids gehen raus – Paniniheft ausverkauft“. In Verbindung mit dem Gruß „Willkommen zu Haus“ lassen sich diese Verse mühelos auch auf die „Fußballeuropameisterschaft hier bei uns in Deutschland“ übertragen. Der fröhlich-optimistische Powerrefrain tut ein Übriges.

Mark Forster, Wenn du mich rufst

Als nicht ganz so glücklich erweist sich dagegen der Griff, den die ARD für die musikalische Untermalung ihrer EM-Berichterstattung getan hat. Mark Forster mag ein toller Sänger und Komponist sein, aber in Sachen Performance und Lyrics kommt er nicht immer auf den Punkt. Das gilt auch für seinen Song Wenn du mich rufst, den der Künstler bewusst als EM-Soundtrack angelegt hat. Im dazugehörigen Video präsentiert sich Forster in teils grotesken Outfits, dazu gestikuliert er wie ein obercooler Rapper. Das will so gar nicht passen zu den seichten Eurodance-Schlager-Beats, die das Stück in die Belanglosigkeit tragen. Okay, der Text handelt, wie es sich eben am besten macht, von Gemeinschaft und vom Füreinander-da-Sein. Doch schon der erste Vers verursacht Kopfschütteln: Du bist das eine Puzzleteil, das so gut passt für mich. Erstens: Was hat Freundschaft, was hat Empathie mit einem Puzzle zu tun? Und zweitens: Besteht ein Puzzle nicht aus vielen Teilen, die alle exakt zueinanderpassen müssen, damit ein großes Ganzes entsteht? Wie also kann ein Puzzleteil besonders gut passen, und dann noch zu einem Menschen?

Von Höhen und Tiefen im Leben erzählt der Song und davon, dass man alles tut, um dem anderen zu helfen – das ist okay. Aber dann kommt schon die nächste Irritation: Ich halt zu dir, auch wenn es wehtut. Was ist gemeint? Dass dem Menschen, der Hilfe braucht, etwas wehtut – und man also auch in schweren Zeiten zu ihm steht? Oder dass das Zu-jemandem-Halten wehtut? Was eigentlich nicht der Fall sein sollte, wenn man immer füreinander da ist. In seiner Doppeldeutigkeit aber wirkt der Vers nicht sauber formuliert.

Und dann soll auch noch Tiefgang suggeriert werden: Knapp achtzig Jahre / Die ich vielleicht da bin, lässt Forster sein Song-Ich philosophieren, Warum lassen mich die Sorgen nachts nicht schlafen? Doch statt etwas Gewichtiges zu sagen, provozieren diese Verse nur weiteres Grübeln. Was die durchschnittliche Lebenserwartung eines Menschen mit irgendwelchen Sorgen zu tun hat, will sich nicht erschließen – und in der Frage zu den Sorgen ist die Antwort längst enthalten: Es liegt in der Natur von Sorgen, dass sie einen ab und an nicht schlafen lassen. Genauso unsinnig tiefsinnig geht es weiter: Acht Milliarden / Ideen vom Glück / Doch nur ’ne Handvoll Menschen wissen, wer du bist. Auch hier darf man fragen: Was hat die Erdbevölkerung, was haben all die vielen Menschen mit ihren individuellen Träumen und Visionen mit dem Du des Songs zu tun? Und ist die Feststellung, dass acht Milliarden Menschen das Du des Songs nicht kennen, nicht reichlich banal? Ich kenne ja auch die anderen acht Milliarden nicht. Folgerichtig klingt Forster in diesem Song dann am überzeugendsten, wenn er ein paar abgedroschene Phrasen zum Thema Zusammenhalt in den Ring wirft: Auch wenn’s so scheint, dass die ganze Welt in Flammen steht / Solange wir zusammen sind / Wird alles gut. Klingt schön und bekannt, ist allerdings etwas wenig für einen packenden EM-Song. Erst recht vor dem Hintergrund, dass sich Forster bei dieser Nummer richtig Mühe gegeben haben will. „Ich wollte irgendwie den Soundtrack dazu machen, der nicht doof ist und nicht negativ“, verriet der Künstler mit Blick auf die EM im WDR: „Daran habe ich echt lange gesessen und ich bin ganz glücklich darüber, wie er geworden ist.“

Tim Bendzko, Komm schon!

Wenn ein Mark Forster so lange an Wenn du mich rufst gesessen hat, dann möchte man nicht wissen, wie lange wohl Tim Bendzko an Komm schon! gesessen hat, seinem EM-Song, den er für MagentaTV produziert hat. Denn dieses aufrüttelnde Motivationsstück produziert gleich in der ersten Strophe ein wahres Feuerwerk aus unreinen Reimen, schiefen Bildern und inneren Widersprüchen: Jetzt hast du lang genug gewartet und / Dein Herz ist ruhig, schlägt ganz monoton / Die Sekunden stehen da einfach rum / Aber du vergisst alles um dich herum / Du schaltest auf Autopilot / Die Spannung steigt, alles unter Strom / Und deine Nerven sehen rot / Mach dir keinen Kopf, du schaffst das schon / Du atmest aus und bist vollkommen bei dir. Aus dem dichten Wortsalat ragen die Sekunden heraus, die einfach da herumstehen. Nicht auszudenken, was geschähe, würden auch noch Minuten, Stunden, Tage und Wochen unmotiviert in der Gegend herumstehen. Gleichzeitig fragt man sich: Wie geht es ihm denn nun wirklich, dem Menschen in Bendzkos Song, der da offenbar auf seinen großen Auftritt oder auf die große Herausforderung wartet, deren Bewältigung ihm seinen großen Traum erfüllt? Ist er ruhig, bei sich und funktioniert nur noch wie in Trance? Oder ist er hochgradig angespannt und steht komplett unter Strom? Das passt nicht zusammen und wirkt ebenso grotesk wie das Bild von den Nerven, die rot sehen. Ergibt das alles Sinn? Ich denke nicht – meine Synapsen sehen da eher schwarz.

Gib alles! Gib niemals auf! Lebe deinen Traum! Wenn du hinfällst steh, wieder auf! Wir sind bei dir! Es sind klischeehafte Durchhaltebotschaften, die Tim Bendzko hier formuliert. Zwar bringt er sie irgendwie ins Ziel, doch ähnlich wie Wenn du mich rufst erweist sich Komm schon! als zähe Angelegenheit. Wenn das deutsche Team bei der diesjährigen Europameisterschaft im eigenen Land so unkonzentriert spielt, wie Forster und Bendzko texten, dann dürfte nach der Vorrunde Schluss sein. Allerdings bin ich zuversichtlich, dass Julian Nagelsmanns Jungs mindestens das künstlerische Niveau der Band Provinz erreichen. Das Viertelfinale sollte also drin sein, und vielleicht geht ja noch mehr.

Meduza, OneRepublic & Leony, Fire

Zusätzlich Hoffnung macht, dass auch international nicht gerade die Sterne vom Himmel getextet werden. Man höre sich nur den offiziellen UEFA-EURO-2024-Song Fire an, der schon durch eine ungewöhnliche Liste an Beteiligten auffällt. Die deutsche Sängerin Leony steuert ein paar souveräne Vocal-Parts bei – klar, sie kommt aus dem Austragungsland. Als Produzenten fungieren die italienischen House-Spezialisten Meduza, doch geschrieben hat die treibende Hymne zum europäischen Großereignis ausgerechnet ein Herr aus den USA, nämlich Ryan Tedder von OneRepublic. Die Musik funktioniert ausgezeichnet in Kombination mit Bildern von voll besetzten Stadien, Fußball spielenden Kids und Profis. Doch textlich wird wie gesagt auch hier eher Stirnrunzeln provoziert. Wieder setzen gleich die ersten Verse einen merkwürdigen Ton: We got our secrets hidden inside our bones / Starlight that bleeds when all of the lights come on. Das heißt übersetzt: „Wir haben unsere Geheimnisse in unseren Knochen versteckt. Sternenlicht, das blutet, wenn alle Lichter angehen.“ Himmel … Was uns die Künstler wohl damit sagen wollen? Angenehm und inspirierend klingt es jedenfalls nicht. Im weiteren Verlauf des Songs geht es dann wieder um das Thema Zusammenhalt und dass man sich gegenseitig aufbaut: It’s a beautiful miracle / How you lift me up when I feel low. Oder, etwas blumiger: You’re the notes to my melody, healing all of my scars – „Du bist die Noten zu meiner Melodie, heilst all meine Narben.“

Das zentrale Motiv des Songs bleibt das Leuchten, das irgendwann alle Menschen erfasst und sämtliche Individuen in einer einzigen strahlenden Masse aufgehen lässt. Now were shining like a sea of gold, yeah, heißt es an einer Stelle – und dann im Refrain: Were on fire tonight / Like a million diamonds in the sky (ooh, ooh) / And were lost in all the lights / Here together, were on fire tonight: „Wir strahlen wie ein Meer aus Gold, wir brennen heut’ Nacht wie eine Million Diamanten am Himmel, und wir verlieren uns in all den Lichtern hier zusammen, wir brennen heut’ Nacht.“ Das alles ist so grell formuliert, dass man lyrisch regelrecht geblendet wird – und beinahe überhört, wie wenig die Lyrics sagen.

Vermutlich ist Fire ähnlich gemeint wie Tage wie diese, der Eventklassiker der Toten Hosen: als mitreißende Beschwörung eines rauschhaften Gemeinschaftserlebnisses. Nur dass bei den Toten Hosen die handelnden Personen trotz aller Schwerelosigkeit, trotz allen Durchdrehens und trotz aller Sehnsucht nach Unendlichkeit noch bei sich bleiben. Die Vision vom großen Leuchten, die Meduza, OneRepublic und Leony dagegen entwerfen, scheint mir deutlich weniger attraktiv. Wer will schon brennen, seine Individualität in einem Meer aus Licht verlieren und irgendwann einfach erlöschen oder verglühen …

Der Sound der Resilienz

Joseph nennen sich drei singende Schwestern aus dem amerikanischen Bundesstaat Oregon. Vier Alben mit eigenwillig-zeitlosen Songs zwischen atmosphärischem Folk und angerocktem Powerpop haben sie veröffentlicht – das aktuelle trägt den Titel The Sun und handelt von Achtsamkeit, Widerstandskraft, Heilung.

„I thought I was the light switch you turned on / But I am the sun.“ Rummms! „Ich hatte mich immer für deinen Lichtschalter gehalten, doch jetzt weiß ich: Ich bin die Sonne.“ Das sind mal Verse, an denen man hängenbleibt. Spektakulär, sperrig und im besten Sinne inspirierend. Sie stammen von der amerikanischen Band Joseph und sind zu hören in The Sun, dem Titelsong des vierten Joseph-Albums, erschienen im Frühjahr 2023. In The Sun befreit sich jemand aus den Fesseln einer nur scheinbar gesunden Beziehung und beginnt zu strahlen. Das Song-Ich hatte seine ständig gedrückte Stimmung als „normal“ empfunden, sämtliche Fehler nur bei sich gesucht und nicht erkannt, dass es dem Gegenüber vor allem darum gegangen war, sich überlegen zu fühlen: „Well, you wanted me small / So you could feel like someone at all / And I played along / And normalized, telling myself I was wrong.“ Doch nun hat sich etwas verändert: Auf einmal ist es kein schlechtes Gefühl mehr, sich auch mal gut zu fühlen („Feeling good doesn’t feel bad anymore“), und dem unfairen Spiel wird ein Ende gesetzt: „I’m done playing a game that can’t be won.“ Das in den Schlüsselversen auftauchende Motiv des Lichtschalters irritiert, ist aber ganz bewusst gewählt: Es betont nicht nur den künstlichen Schein, den das Song-Ich lange Zeit als selbstverständlich empfunden hat, sondern auch das Instrumentalisiert-, das Benutztwerden. Das Song-Ich weiß jetzt: Es ist nicht irgendein Hebel, den das Gegenüber betätigt, um ein künstliches Strahlen zu erzeugen – es ist ein aus sich selbst heraus hell leuchtender Stern!

Natürlich darf man annehmen, dass es hier in erster Linie um eine Liebesbeziehung geht. Doch die Lyrics sind so allgemein gehalten, dass man die beschriebene Dynamik auch auf andere Beziehungen übertragen kann: die zwischen Kindern und Eltern, zwischen Vorgesetzten und Teammitgliedern oder, ganz allgemein, zwischen den Mitgliedern einer Gruppe. Und wer sich an euphorischen Selbstbehauptungsgassenhauern wie Gloria Gaynors I Will Survive, Chers Strong Enough oder I’m Still Standing von Elton John allmählich sattgehört hat, könnte im hymnisch-optimistischen Joseph-Song The Sun eine subtile Alternative entdecken.  

Was den Song außer dem scharfzüngigen Text und der mitreißenden Melodie hörenswert macht, sind der gefühlvolle Vortrag und die ungewöhnlichen Menschen dahinter. Joseph ist ein Trio, das in den USA schon einen gewissen Bekanntheitsgrad hat, im Rest der Welt aber eher unter dem Radar fliegt. Es handelt sich um die Zwillingsschwestern Allison und Meegan Closner und ihre vier Jahre ältere Halbschwester Natalie Closner Schepman. Zusammen bringen sie einen kaum mit Worten zu beschreibenden Harmoniegesang auf die Bühne, den wohl nur ein derart unkonventionelles Schwesterngespann so hinbekommt. Damit ist nicht etwa eine klinische Perfektion, ein kunstvoll glattes, aber letztlich seelenloses Verschmelzen von Stimmen gemeint, sondern ein ganz besonderer Gesamtklang, den jede Sängerin durch individuelle Nuancen bereichert. Natalie Closner-Schepman ist nicht nur Vokalistin, sondern auch „die mit der Gitarre“ und in Interviews die Wortführerin. Einst hatte sie sich als Solo-Singer-Songwriterin versucht und schließlich, als es nur schleppend voranging, die nicht minder talentierten Meegan und Allison zur gemeinsamen Bandsache überredet. Der Name des Trios? Nun, Joseph ist eine Stadt in Oregon, dem Bundesstaat, aus dem die drei kommen, und Joseph hieß der geliebte Großvater – so einfach und bodenständig kann es manchmal sein. Seit rund einem Jahrzehnt beackern die gefühlvollen Schwestern das weite Feld zwischen atmosphärischem Folk und angerocktem Powerpop, integrieren dabei mühelos Elemente aus Country und Rock, jedoch ohne sich auf ein bestimmtes Genre festlegen zu lassen. Was sie machen, hat zeitlose Qualität. So reich an betörenden Melodien, ungewöhnlichen Harmonien und feinen Texten ist ihre Musik, so charismatisch ihr Vortrag, dass Joseph längst Superstars sein müssten. Doch das sind sie nicht. Vermutlich sind sie einfach … zu eigenwillig.

Das fängt schon bei der Art und Weise an, wie sie sich präsentieren. Meist treten sie gefühlt ungeschminkt, in allen möglichen und unmöglichen Freizeitklamotten auf. Und wenn sie sich doch mal „in Schale schmeißen“, dann sieht das eher altbacken, nach Omas Geburtstag oder Abiball aus als nach „echtem“ Popstar-Style. Ein bisschen Rock-Glamour blitzt zwar hier und da auf, doch im Großen und Ganzen wird man den Eindruck nicht los, dass diese Schwestern lediglich aus Spaß, vielleicht auch selbstironisch das eine oder andere Show-Register ziehen, um sich letztlich doch immer auf das Einzige zu fokussieren, was sie wirklich wollen: rausgehen und singen.

So kommt es, dass zwar einige „Official Videos“ zu den Songs des Trios existieren, diese aber nur selten aufwendig gestaltet wirken und, man darf es so sagen, auch nur selten wirklich faszinieren. Deutlich aufregender sind die unzähligen Live- bzw. Unplugged-Clips, die von Joseph im Internet kursieren: Da stehen die drei irgendwo in der Landschaft, in engen Studioräumen oder Gemeindesälen, in Shops oder Bibliotheken, performen ihre Songs in rauem Lo-Fi-Sound und wirken dabei bisweilen so in ihre Musik versunken, dass man selbst beim Zuschauen am PC die Luft anhält. Folgerichtig hat auch auf den teils üppig arrangierten, unbedingt hörenswerten Studioalben mit Bandbesetzung jeder Joseph-Song einen ordentlich komponierten Schluss, das heißt, es wird grundsätzlich nicht ausgeblendet: Joseph-Stücke sind in sich abgeschlossene Kompositionen für den Livevortrag – sie kommen in jeder Hinsicht auf den Punkt.

Ja, bei dieser Band kann ich schon ins Schwärmen geraten. Doch von all den geschilderten Ausnahmemerkmalen lässt sich mühelos der gedankliche Bogen zurück zu Songs wie The Sun schlagen. Denn so wie sich das Ich in diesem Song frei macht von negativen Einflüssen und aus sich heraus zu strahlen beginnt, so spiegelt sich auch im Werdegang und der Herangehensweise der Band der Wille, sich gegen Widerstände zu behaupten, vor allem bei sich selbst zu bleiben, Künstlichkeit, gar Selbstbetrug zu vermeiden, den eigenen künstlerischen Anspruch nicht zu verraten. Joseph sprechen in Interviews offen über Unsicherheiten, Selbstzweifel und Ängste, über eine Familiendynamik, die nicht immer nur harmonisch war, über Erfolge, schwierige Partnerschaften und Niederlagen – und über die persönliche Weiterentwicklung, bei der sie auch therapeutische Hilfe in Anspruch genommen haben.

Tatsächlich handelten schon einige frühere Songs von intensiver Beziehungsarbeit, von Selbstbehauptung und Empowerment. Das 2023er Album The Sun dokumentiert nun ein neues, ein Wiedererstrahlen der Band und dreht sich fast durchweg um „Moreness“, wie es die Protagonistinnen nennen: darum, zu erkennen, dass man „mehr“ ist, als man selbst von sich glaubt – und erst recht mehr als das, worauf einen die Gesellschaft, die persönliche Umgebung, die Partnerin oder der Partner reduzieren wollen. Die zehn Songs des Albums sind damit so etwas wie der Sound der Resilienz, mit ungewöhnlichen Versen wie den folgenden, sie stammen aus dem stetig an- und abschwellenden Song Waves Crash: „There’s no need to define / How I measure up next to anyone / Or how well I stayed in the lines / I’m a tall, tall tree reaching up in the breeze / All I have to do is breathe / I’m a limb of goodness in motion / (…) / You wouldn’t tell the flower it was made of sin / You know it’s good just for being / What if, what if I’m not made of sin? / What if, what if I’m lightning?“ Nein, es geht im Leben nicht darum, sich mit anderen zu vergleichen und sich anzupassen. Es geht darum, frei zu existieren – wie ein Baum oder eine Blume, als natürliches Wesen, ohne Schuldgefühle und mit guten Absichten. Holla, das lässt einmal mehr aufhorchen. Aber es ist eine entwaffnende Perspektive. Mit überraschender Schlussfrage: „Was, wenn ich der Blitz bin“?

Achtsamkeit, Resilienz, Empowerment – es sind die Befindlichkeitsschlagworte unserer Zeit. Auch viele Popstars hantieren damit, vor allem weibliche. Doch was gerade von US-Stars als „female empowerment“ verkauft wird, wirkt nicht immer überzeugend: Da suggerieren manche, die dank unzähligen Chart-Hits im Luxus baden und unbegrenzte finanzielle Möglichkeiten haben, dass man gleichzeitig Superstar, erfolgreiche Pop-Unternehmerin, Sexsymbol und auch noch perfekte Mutter sein kann, während andere sich als besonders taff und selbstbestimmt inszenieren, dabei aber zu kaschieren versuchen, dass ihre derben Lyrics und von Beauty-Eingriffen gepushten Glamour-Erscheinungen ganze Industrien befeuern, erst recht die Erwartungen heterosexueller Männer bedienen. Das alles verkauft sich prima, produziert jedoch fragwürdige bis unerreichbare Idealbilder und vergrößert letztlich die Kluft zwischen Künstlerinnen und Fans.

Die Closner-Schwestern sind dagegen weder Models, noch versuchen sie krampfhaft, welche zu sein. Sie wirken ausschließlich auf ihr Songschaffen konzentriert, natürlich, nahbar, auch mal seltsam und verletzlich. Mit ihrem Publikum agieren sie auf der vielzitierten Augenhöhe. Dieser zurückgenommene, beinahe „stinknormale“ Ansatz und die letztlich zu komplexen Botschaften sind es wohl, die den internationalen Starruhm bisher verhindert haben, auch wenn mit Songs wie White Flag im Oktober 2016 schon mal Platz eins der Billboard-„Adult Alternative Airplay“-Charts erreicht wurde. „Burn the white flag“, heißt es dort mitreißend im Refrain: „Verbrenn’ die weiße Flagge!“ Und natürlich geht es darum, bloß nicht zu kapitulieren. Doch die Gegner sind nicht etwa persönliche oder politische Feinde, auch nicht irgendwelche finsteren Bösewichter, sondern skeptische Stimmen und Versagensängste, die einen davon abhalten, das zu tun, was man eigentlich vorhat.

Auch in Fighter, einer ähnlich griffigen Hymne aus dem Jahr 2019, verleihen Joseph einem gängigen Selbstbehauptungsmotiv ihren ganz eigenen Dreh. Entgegen allen Popkonventionen ist es hier nicht das Song-Ich, das sich als kompromisslose Survival-Kämpferin selbst feiert. Nein, die Sprecherin ringt längst um die Liebe, verlangt nun aber auch vom Gegenüber, sich nicht zurückzuziehen, sondern genauso engagiert für die Rettung der Beziehung zu kämpfen: „Don’t keep yourself from me (…) Don’t lie this time / I need a fighter / You’re my bright side / I want it brighter / Don’t leave me in the dark.“ Solche Verse knüpfen wiederum an Canyon an, einen unwiderstehlichen Powerpop-Song, in dem sich das Song-Ich anschickt, dem als Land, als Bergwerk und als Ozean charakterisierten Gegenüber endlich näherzukommen. Doch ist dieses Gegenüber derart verschlossen und im übertragenen Sinne so „weit weg“, dass schon ein paar Zentimeter Distanz wie ein unüberbrückbarer Canyon erscheinen: „Can’t get, I can’t get / Can’t get close enough to be close to you / Can’t get, I can’t get there / An inch is a canyon.“ Nie nah genug rankommen, um wirklich von Nähe sprechen zu können – das klingt nach emotionaler Fron.

Womit wir beim Stichwort Liebe sind. Ja, die Liebe ist auch bei Joseph ein wichtiges Thema – als zentrales Element in Familie und Partnerschaft, aber auch als treibende universelle Kraft. Doch vermeiden es die drei in der expliziten Auseinandersetzung mit dieser universellen Kraft, allzu naiv-kitschige Floskeln à la „All you need is love“ oder „Love is the answer“ in den Ring zu werfen. Im Gegenteil: Das Song-Ich von Love Is Flowing, ebenfalls vom aktuellen Album The Sun, ist realistisch – es spürt Schmerz, sieht Leid, aber fühlt sich machtlos, kann nicht helfen: „Something’s burning / But I can’t reach it / Phantom limb on fire / Someone’s hurting / But I can’t fix it / And I don’t know how to try.“ Selbst die umfassende Liebe, von deren Existenz und stetigem Fluss das Song-Ich immerhin überzeugt ist, lässt sich nicht wirklich spüren, geschweige denn in für alle Menschen gewinnbringende Bahnen lenken. Doch da ist die Sehnsucht nach einem Einstieg, und das zumindest macht Hoffnung: „Love is flowing, love is flowing, love is flowing, love is flowing / And I wanna get in it.“ Der perlende Rhythmus und die sanft wogende Gesangslinie unterstreichen diesen inspirierenden Fluss, von dem man sich wünscht, dass er irgendwann alle und alles durchdringen möge. Es sind bittersüße Verse. Sie wirken weder kokett noch prätentiös. Einfach angemessen.

Wir leben in turbulenten Zeiten. Die Pandemie, Kriege und politische Krisen haben die Welt verändert, deprimierende Nachrichten jeden Tag, Gewissheiten lösen sich auf. Und nicht selten hat man den Eindruck, dass sich Menschen im eigenen persönlichen Umfeld anders, unberechenbarer verhalten als zuvor. In solchen Zeiten spenden Bands wie Joseph mit Songs wie Fighter, Canyon, The Sun oder Love Is Flowing nicht nur Halt und Trost, sondern auch Energie und Zuversicht. Pop als Therapie – für die Künstlerinnen und fürs geneigte Publikum.

Ein Typ namens Pink

Mitte der Siebzigerjahre veröffentlichten Pink Floyd Have A Cigar, einen Song, der die Musikindustrie und ihre feisten Managertypen kritisiert. Heute haben sich die alten Fronten einerseits aufgelöst, andererseits signifikant verschoben. Und einige Helden von damals sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.

„Ach, nebenbei, wer von euch ist eigentlich Pink?“ Wir sind in den Siebzigern, mal wieder läuft Have A Cigar von Pink Floyd. Und wie jedes Mal, wenn dieser Song läuft, ist man vor allem von dem schweren, beinahe metallisch wirkenden Groove gefesselt, den die Band hier im Rahmen einer „State of the art“-Studioproduktion entfaltet, dazu von der reichlich abgehoben klingenden Gesangsstimme. Doch spätestens wenn der Sänger einen Teil des Bandnamens erwähnt, wird man aufs Neue stutzig. Die Frage nach jemandem, der Pink heißt, und das ausgerechnet in einem Song der britischen Art-Rock-Band Pink Floyd? Schon schräg. Irgendwann beginnt man, auch dem Songtext auf den Grund zu gehen. Und stellt fest: Es ist exakt diese Frage nach dem Bandmitglied namens Pink, mit der sich der Sprecher des Songs als heuchlerischer Ignorant erweist – und in der sich die ungewöhnliche Sprechsituation der Lyrics offenbart. 

Have A Cigar erschien 1975 auf der LP Wish You Were Here und trägt Züge eines Dramatischen Monologs. Diese lyrische Darstellungsform unterscheidet sich von einem klassischen Monolog dadurch, dass die Sprecherin oder der Sprecher in einer ganz konkreten Kommunikations- oder Dialogsituation spricht. Das Gegenüber wird zwar mit keinem Wort zitiert, doch ist seine Anwesenheit spürbar: weil es direkt adressiert oder weil auf eine seiner Einlassungen geantwortet wird. Die Verse geben somit kein Selbstgespräch wieder, sondern wirken wie der aus einem Bühnendrama herausgelöste Monolog eines zentralen Charakters. Bewegend sind die großen Dramatischen Monologe der Literaturgeschichte oftmals dadurch, dass sich das jeweils sprechende Ich in einer besonderen, emotional aufgewühlten Situation befindet und das Publikum an einem Entwicklungs- oder Entscheidungsprozess teilhaben lässt. Dabei kann es auch zu überraschenden Enthüllungen, ja Selbstentlarvungen kommen. Der Songtext von Have A Cigar ist natürlich viel zu kurz und kompakt, um einen solch fulminanten inhaltlichen Bogen zu schlagen – und doch gehen Pink Floyd Mitte der Siebziger mit den Lyrics und ihrer gesanglichen Inszenierung deutlich über das hinaus, was redselige Song-Ichs für gewöhnlich in Popsongs von sich geben.

Ganz offensichtlich handelt es sich bei dem Sprecher des Stücks um einen Musikmanager, der in überheblich-väterlicher Manier und mit suggestiver Rhetorik versucht, einen talentierten jungen Musiker und seine Band zu einem Deal zu überreden. Erst lockt und beeindruckt er den Künstler mit Zigarren, einem Symbol für erfolgsorientiertes Macho- und Bonzentum, dann verspricht er ihm das Blaue vom Himmel. Der „Junge“ – und mit ihm seine Bandkollegen – würden es sehr weit bringen, Höhenflüge erleben, gar unsterblich werden und, sofern sie sich denn ins Zeug legten, von den Massen geliebt werden: „Come in here, dear boy, have a cigar. / You’re gonna go far / You’re gonna fly high, / You’re never gonna die, / You’re gonna make it, if you try. / They’re gonna love you.“ Dass der Manager allerdings weder an der Person des Musikers noch an dessen Musik ernsthaft interessiert ist, wird im weiteren Verlauf der Strophe immer offensichtlicher: „Well, I’ve always had a deep respect, / And I mean that most sincere“, schleimt er und bekräftigt, wie toll er doch die Gruppe finde, die er unter Vertrag nehmen will: „The band is just fantastic, / That is really what I think.“ Das alles ist schon so dick aufgetragen, dass man es kaum glauben mag. Und dann stellt der Manager eben jene peinliche Frage, die ihn endgültig als unempathischen Geschäftemacher entlarvt: „Oh, by the way, which one is Pink?“  – „Ach, nebenbei, wer von euch ist eigentlich Pink?“ Natürlich darf man annehmen, dass sich die „Urheber“ des Songs hier auch selbst thematisieren. Und wer sich dann nur ein bisschen für Pink Floyd interessiert, weiß ganz bestimmt, dass es kein Bandmitglied mit dem Vornamen Pink gibt – dass es vielmehr der Bandname ist, der sich aus den Vornamen der Bluesmusiker Pink Anderson und Floyd Council zusammensetzt. Unser großspuriger Manager tritt also voll ins Fettnäpfchen – und merkt es nicht einmal.

Schlimmer noch: Im sich anschließenden Refrain gibt er bestens gelaunt zu, dass er und der Konzern, für den er arbeitet, lediglich ein Spiel spielen – und zwar ein Spiel namens „Ritt auf dem Goldesel“: „And did we tell you the name of the game, boy? / We call it riding the gravy train.“ Spätestens jetzt hat sich der Sprecher als Vertreter eines eiskalten, profitgeilen Musikbusiness entpuppt, das Menschen und künstlerische Leistungen nur nach ihrem Marktwert bemisst und genau das Gegenteil von „sincere“ („aufrichtig“) ist, nämlich unaufrichtig und verlogen. Vor diesem Hintergrund ergeben der maschinenhafte Groove und der „windige“, leicht zugedröhnt wirkenden Gesang erst recht einen Sinn – nicht umsonst existiert das Klischee von feisten Entscheidungsträgern der Musikindustrie, die fleißig koksen und sich selbst für Star-Macher, banaler ausgedrückt: für die Größten, für Götter halten. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die Ansprache des Managers auch das Konstrukt der Rockmarke „Pink Floyd“ transparent macht: Die kann nicht nur für viele andere Bands stehen, sondern locker auch die Statistenrolle im eigenen Song übernehmen.

Have A Cigar ist einer von zwei Songs auf Wish You Were Here, die explizit die Musikindustrie kritisieren, der andere heißt Welcome to the Machine. Und nimmt man diese Kritik als zentrales Motiv des Albums, dann formulieren auch die dazugehörigen Cover- und Postkartenmotive, die man damals als Fan einfach nur spektakulär surreal, irgendwie cool fand, klare Botschaften: Da ist der in Flammen stehende Mann im Anzug, dem ein anderer Anzugträger die Hand reicht – so als würde er durch den Abschluss eines Deals im wahrsten Sinne des Wortes verbrannt. Da ist der Mensch, dessen nackte Beine kerzengerade aus dem Wasser eines beinahe spiegelglatten Sees hinausragen – ein trügerisch schönes Bild für Hochglanzillusionen, in denen der Mensch nur wie ein Accessoire wirkt, oder auch für die Bedeutungslosigkeit menschlichen Tuns, denn der Mensch auf dem Bild schlägt keine Wellen. Da sind die beiden Maschinenhände, die sich einmal mehr zum vertragsschließenden Handshake treffen. Und da ist der an Figuren von René Magritte erinnernde gesichtslose Mann mit Melone und Aktenkoffer, der irgendwo in der Wüste Schallplatten an den Fan zu bringen versucht. Alles ikonische Motive der Rockkultur. Und vielleicht war ja auch die Besetzung des Gesangsparts von Have A Cigar ein kleines renitentes Statement: Denn die herrlich irre Stimme leiht dem durchtriebenen Sprecher des Songs nicht etwa ein Mitglied von Pink Floyd, sondern der Folksänger Roy Harper. Der hatte während der Produktion von Wish You Were Here zufällig in einem benachbarten Studioraum aufgenommen und war schlussendlich eingesprungen: weil die eigentlich vorgesehenen Bandvokalisten nicht richtig konnten; oder weil sie einfach nicht wollten. Auf jeden Fall auch nicht ganz das, was die Plattenbosse von ihrem „Goldesel“ Pink Floyd erwarteten.

Tatsächlich waren die Herren in den Chefetagen der Plattenfirma wenig begeistert von den Covermotiven und Songbotschaften des Wish You Were Here-Albums. Letztere werden längst auch als Reaktion der Band auf den Druck interpretiert, der durch den Welterfolg des vorangegangenen Pink-Floyd-Albums The Dark Side of the Moon (1973) entstanden war. „Es muss ein mindestens ebenso erfolgreiches Nachfolgealbum her“, das soll die Erwartungshaltung der Plattenfirma gewesen sein. Und darauf hatten Pink Floyd keine Lust. Dass sie die Erwartung letztlich doch erfüllten und Wish You Were Here heute in verschiedenen Ranglisten der besten Alben aller Zeiten ganz weit vorn rangiert, ist beinahe schon eine Ironie der Geschichte. Ebenso wie die Tatsache, dass die Band nur wenige Jahre nach Wish You Were Here und Have A Cigar doch noch einen Typen namens Pink in ihr Universum integrierte. Die Rede ist natürlich von dem fiktiven Protagonisten des 1979 erschienenen Konzeptalbums The Wall: Dieser Pink ist wahrlich kein freudestrahlender Held, sondern ein von Psychosen geplagter Musiker – aber das versteht sich fast von selbst. 

Songs wie Have A Cigar erinnern an eine Zeit, in der der ungestüme Rock ’n’ Roll der 1950er und -60er Jahre allmählich erwachsen geworden war. Rockmusik hatte sich zu einem profitablen globalen Geschäftszweig gemausert und saturierte Superstars hervorgebracht – so dass die Gefahr bestand, dass sie ihre einstigen Ideale verriet. Es war eine Zeit, in der große Schallplattenkonzerne die Spielregeln dominierten und charismatische Managerpersönlichkeiten wie Brian Epstein (The Beatles) oder Thomas Andrew „Colonel Tom“ Parker (Elvis Presley) die Geschicke „ihrer“ Künstler lenkten. Selbst die Gegenbewegungen des Punk und der New Wave brachten noch ähnlich schillernde Akteure hervor, die man nach einer finsteren Strippenzieherfigur aus George du Mauriers Horrorstory Trilby (1894) auch mit dem Begriff „Svengali“ belegt – man denke an Malcolm McLaren (The Sex Pistols) und Bill Drummond (Echo & The Bunnymen, The Teardrop Explodes). Keine Frage: In den 1970ern und -80ern prägte das ernsthafte Fan-Sein ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Mainstream samt Major Labels, verbunden mit der Begeisterung für die wie Pilze aus dem Boden schießenden Underground-Bands und Independent-Labels. Dabei sprach natürlich nichts dagegen, eigenwillige Rock-Dinosaurier wie Pink Floyd im stillen Kämmerchen weiterzuhören – musste ja niemand groß mitkriegen.

Große Plattenfirmen und Management-Gurus hier, tapfere Indie-Macher da – dieser Gegensatz schien in Stein gemeißelt und ewige Orientierung zu bieten. Doch dann kamen die Digitalisierung, das Internet und „social media“ – und plötzlich war nichts mehr, wie es war. Die alten Fronten lösten sich auf, und aktuellen Musik-Acts eröffneten sich ungeahnte Möglichkeiten. Gleichzeitig ergaben sich neue Feindbilder. Heute blicken wir zurück auf Bands wie die Arctic Monkeys und Stars wie Billie Eilish, die nicht mit Hilfe einer großen Plattenfirma, sondern eher übers Internet berühmt wurden und längst erfolgreich ein hohes Maß an künstlerischer Freiheit genießen. Wir feiern selbstbestimmte Sternchen und Stars, aber auch Superstars wie Lady Gaga und Beyoncé – Letztere führt mit ihrem Ehemann Jay-Z eine Art Familien-Musikimperium. Und wir bejubeln Phänomene wie Taylor Swift, eine Megastar-Persönlichkeit, die mit ihrem Erfolg über sämtliche analoge wie digitale Plattformen hinweg fast schon einen eigenen relevanten Wirtschaftszweig begründet hat. Einst abhängig von Labels, die ihre ersten Alben an ihr vorbeivermarkteten, gewann Swift die Kontrolle zurück, indem sie die eigenen frühen Alben einfach coverte, also leicht verändert noch einmal neu aufnahm, und dann selbst vermarktete. Heute diktiert sie Anbietern wie Apple Music die Konditionen und bricht mit ihren Tourneen sämtliche Besucherrekorde. Was zu einer Kehrseite der heutigen Musikindustrie führt, den Stramingdiensten. Denn diese zahlen den Künstlerinnen und Künstlern, die dort Werke anbieten, verschwindend geringe Tantiemen, so dass eigentlich nur die Topstars der Branche dort einigermaßen Umsatz machen können. Und das bringt wiederum kleinere Acts gegen die Abräumer-Acts auf. Ja, Zeiten und Fronten ändern sich. So dass die Kluft zwischen erfolgreich und nicht erfolgreich, zwischen Arm und Reich heute fast noch größer ist als in den 1970er Jahren, der Zeit von industriekritischen Größen wie Pink Floyd und Konsorten.

Was also ist aus den „guten alten“ Zigarre rauchenden Plattenbossen und den egozentrischen Svengalis von damals geworden? Sie sind ganz einfach verschwunden. Oder spielen, sieht man mal vom Bereich der gecasteten Retorten-Acts ab, kaum noch eine Rolle. Zwar gibt es nach wie vor Bereiche, die Künstlerinnen und Künstler durch Fachleute managen lassen – von Booking bis Studiomiete, von Buchhaltung und Recht bis Videodreh –, doch viel häufiger als vor dreißig, vierzig Jahren haben die Stars, darunter erfreulich viele Frauen, selbst ein hohes Maß an Kontrolle über ihr Werk und ihr Tun. Einen Song wie Have A Cigar würde heutzutage wohl niemand mehr schreiben. Und wenn man ehrlich ist, dann sind am langen Ende auch so manche Künstlerinnen und Künstler von damals nicht mehr das, was sie einmal waren. Tatsächlich gelten die Mitglieder von Pink Floyd seit Jahren als zerstritten. Und Roger Waters, in den 1970er Jahren so etwas wie der Bandleader und eine weltweit gefeierte gesellschaftskritische Stimme, sieht sich anno 2023 mit schlagzeilenträchtigen polizeilichen Ermittlungen und Versuchen konfrontiert, ihm Auftrittsverbote zu erteilen: aufgrund von seltsamen Pro-Putin-Äußerungen und der irritierenden Integration antisemitischer Symbole in seine Bühnenshows.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Reihe „LyrikLINES“ auf dem Portal Faust-Kultur