Zum Tod des wunderbaren Kontrabassisten Danny Thompson
Der Begriff des kreativen Grenzgängers ist irreführend. Denn die Persönlichkeiten, die man gern als kreative Grenzgänger ehrt, balancieren auf keiner Grenze. Sie überschreiten auch keine Grenzen. Nein, sie kennen schlicht keine Grenzen. Sie fühlen sich einfach überall zu Hause. Was für andere Menschen verschiedene Welten sind, ist für sie ein riesiger Kosmos mit unendlich vielen Facetten. Vielleicht spricht man eher von kreativen Kosmopoliten.
Einer von ihnen war Danny Thompson. 1939 in eine Bergarbeiterfamilie geboren, wurde er schon früh durch zwei Brüder seines Vaters, die in einer Blaskapelle spielten, an die Musik herangeführt. Nachdem der Vater im Krieg gestorben war, zog die Familie mit dem sechsjährigen Danny nach London, wo er mehrere Instrumente erlernte, darunter Posaune. Schließlich entdeckte er seine Liebe zum Kontrabass, die ihn so sehr packte, dass er sich im Alter von 13 Jahren sein erstes Instrument selbst zusammenbaute – der Legende nach aus einer Teekiste und „zufällig gefundenen“ Klaviersaiten. Den Einfluss der Posaune meinten Kritiker in seinem späteren Bassspiel noch herauszuhören.
Mit Anfang/Mitte zwanzig startete Danny Thompson das, was eine Ausnahmekarriere werden sollte. Er spielte in der Band des Jazz-Saxofonisten Tubby Hayes, schloss sich Alexis Korner’s Blues Incorporated an und gehörte schließlich, 1967, zu den Gründungsmitgliedern von Pentangle, jener britischen Band, die mühelos klassischen Folk mit Jazz mischte. Dass Thompson nebenbei noch Teil eines Trios um den späteren Jazzrock-Giganten John McLaughlin (Gitarre) war, schien nur folgerichtig. Blues, Jazz, Folk und natürlich auch Rock – die Kritik der jeweiligen Puristen scherte Danny Thompson wenig. Er spielte, was und mit wem er wollte. Und diese Einstellung katapultierte ihn in die unterschiedlichsten musikalischen Sphären.
In den Siebzigerjahren durchlebte der längst hochgeschätzte Saitenzauberer schwierige Phasen, war eng verbandelt mit genialen Sonderlingen wie John Martyn und Nick Drake, der 1974 an einer Überdosis Antidepressiva starb, und verfiel dem Alkohol. Ab den Achtzigern, wieder gefestigt, veröffentlichte Danny Thompson auch eigene Stücke und wirkte verstärkt auf Alben von Stars der unterschiedlichsten Genres mit. Nur selten waren Vertreter der leichteren Popmusik darunter, so wie Cliff Richard und Rod Stewart – meist handelte es sich um eigenwillige Künstlerinnen und Künstler, die genauso visionär und experimentierfreudig arbeiteten wie er selbst. Talk Talk, David Sylvian, Peter Gabriel, Shelleyan Orphan und Kate Bush sind nur einige der vielen Größen, die sich seine Dienste sicherten, über Peter Gabriels Real-World-Label wirkte er auch an Weltmusikprojekten wie The Blind Boys of Alabama und S. E. Rogie mit.
Dass Danny Thompson ein Virtuose auf seinem Instrument war, versteht sich von selbst. Darüber hinaus entwickelte er einen wiedererkennbaren eigenen Sound, eine beinahe poetische und immer wieder sehr melodische Spielweise, dazu die Fähigkeit, die Musik, an der er mitwirkte, in sich aufzunehmen und gleichzeitig mit seiner Persönlichkeit zu bereichern. Danny Thompson gehörte nie zum Heer der letztlich austauschbaren Studiomucker, sondern war stets der seelenverwandte Begleiter: ein kongenialer Künstler, von dem man wusste, dass er eine Produktion mit seinem Bassspiel auf die nächsthöhere Ebene heben würde. Man hört es auf vielen Aufnahmen – dieser Bass, von seinem Hüter liebevoll auf den Namen Victoria getauft, ist mehr als ein lediglich dienendes Instrument, Thompson spielt ihn wie ein Soloinstrument, jedoch ohne sich unangenehm in den Vordergrund zu drängen. Eine Kunst, die wenige beherrschen.
Am 23. September ist Danny Thompson im Alter von 86 Jahren gestorben. Mit ihm verliert die Welt einen großen Musiker, dem Weggefährtinnen und -gefährten immer auch ein ebenso großes Herz bescheinigt haben.
Paramore und Hayley Williams – schon seit geraumer Zeit beschäftigen mich diese amerikanische Band und ihre Frontfrau. In mehr als zwanzig Jahren haben sie eine ebenso umfangreiche wie stilistisch vielfältige Songsammlung produziert, und längst sind sie internationale Superstars. Nur in Europa, und vor allem hierzulande, fliegen sie noch etwas unter dem Radar. Warum eigentlich?
Es gibt sie, diese klaren Fälle: Eine neue Band, eine neuer Solo-Act, ein, zwei schicke Singles, dazu ein gut gemachtes Album, wunderbar. Als Fan muss man nicht allzu viel kapieren, das Ganze macht einfach Spaß und begleitet eine Zeit lang durchs Leben. Vielleicht kommen noch ein paar schöne Songs hinterher, und das war’s. Daneben gibt’s die aktuellen Aufreger, die aus dem Nichts kommen und angeblich die Popwelt durcheinanderwirbeln, am Ende vielleicht aber doch recht schnell wieder in der Versenkung verschwinden – die grellen Bilderstürmer und schillernden Sonderlinge. Zuletzt waren das häufig Frauen, und meist ging es um Gender Politics, um Female Empowerment, um freche Außenseiterperspektiven und/oder den selbstbewussten Umgang mit scheinbaren Schwächen, psychischen Störungen. Klar, eigenwillige Stars der Marke Megan Thee Stallion, Chappell Roan, Charli xcx oder, ganz aktuell, Lola Young sind ungemein spannend und wichtig, aber sie werden auch etwas arg gehypt. Man kann nicht sicher sein, ob sie in ein oder zwei Jahren noch mitreden werden im Popgeschäft. Über allem schweben natürlich die beinahe unangreifbaren Megastars, und das zum Teil im buchstäblichen Sinne. Man denke nur an Pink & Co, bei denen es ohne respekteinflößende Akrobatik und ein Staunen machendes Über-der-Menge-Fliegen beim Livekonzert nicht mehr geht. Die Madonnas, Coldplays, Beyoncés und Dua Lipas dieser Welt, die mit perfekt konfektionierten Tophits und aufwendigen Bühnenshows, zum Teil ergänzt durch reichlich Tanzpersonal und möglichst viele Kostümwechsel, auf die schiere Überwältigung eines eventsüchtigen Publikums zielen – sie werden nur noch getoppt vom größten Megastar unserer Zeit, Taylor Swift: Sie hat mit cleveren Marketingstrategien und einem komplexen Geflecht aus scheinbar autobiografischen Verweisen in ihren Songs gleich ein ganzes „Taylorverse“ geschaffen, und das macht ihr so schnell niemand nach. Aber dann gibt’s da noch die hartnäckige Ausnahme-Acts; die sich mit ihrem ganz speziellen eigenen Sound nur langsam ins Bewusstsein schleichen; denen man zunächst nur sporadisch begegnet und an denen man, je intensiver man sich mit ihnen beschäftigt, immer neue Seiten entdeckt. Bis man irgendwann realisiert, dass sie schon lange im Geschäft sind und in anderen Universen längst zu den ganz Großen gehören. Acts, die irgendwie präsent, aber nie richtig greifbar sind, die ganz anders schillern als die vielen grellen Sternchen, Stars und Superstars, die man so kennt.
Zu diesen etwas anderen Acts gehören für mich Paramore und Hayley Williams. Aber: Sind es Paramore und ihre Sängerin Hayley Williams? Oder ist es Hayley Williams – die Frontfrau, die auch mal Solopfade beschreitet – mit ihrer Band Paramore? Schon die möglichen Antworten auf diese Fragen machen einen Teil der Paramore-Faszination aus, zumal diese Fragen auch die wechselnden Bandmitglieder beschäftigten und beschäftigen. Tatsächlich ist die turbulente Geschichte dieses amerikanischen Rockphänomens ein Fass ohne Boden, deshalb nur so viel: Als die Band 2004 in Franklin, Tennessee, zusammenkam, waren ihre Mitglieder mehr oder weniger Teenager. Emocore, Pop-Punk und Crossover-Rock waren damals angesagt, und die außerordentlich talentierte Combo erzielte schnell erste Achtungserfolge in der Szene. Von Anfang an als schwierig erwies sich die Tatsache, dass der Platten-Major Atlantic einen Vertrag nur mit Sängerin Hayley Williams hatte, die man als Solo-Act zum Mainstream-Popstar aufbauen wollte. Williams aber wollte mit der Band groß werden, weshalb man Paramore zähneknirschend bei einem Sublabel unterbrachte. Aus dieser sehr ungewöhnlichen Konstellation resultierten in den ersten Jahren ständige Eifersüchteleien – zumal Williams, ob von ihr gewollt oder ungewollt, stets die meiste Aufmerksamkeit von Fans und Medien erfuhr. Hinzu kam, dass die Frontfrau nacheinander Liebesbeziehungen mit verschiedenen Bandmitgliedern einging, was den ohnehin schon regen Kreislauf an Neuzugängen, Auszeiten, Ausstiegen und Wiedereinstiegen noch beschleunigte. Genug Stoff für Klatsch-und-Tratsch-Enthusiasten, die bis dahin gedacht hatten, chaotischer als bei Fleetwood Mac könnten sich bandinterne Dynamiken nicht gestalten. Ich habe hier irgendwann den Überblick verloren, und es ist mir, ganz ehrlich, letztlich auch wurscht.
Denn was mich am meisten beeindruckt ist das umfangreiche kreative Output dieser Band, die von Crossover, Grunge und Indiepop über klassisches Singer-Songwritertum, Dance und Funk bis hin zu Postrock die unterschiedlichsten Einflüsse in ihre Musik integriert hat. Das gilt noch einmal besonders für die Soloalben von Hayley Williams, auf denen es mal trip-hoppig meditativ, mal auf schräge Art funky und tatsächlich auch mal mainstream-poppig seriös zugeht. Ich könnte jetzt heftig losfabulieren, aber wen würde das interessieren – deshalb nur ein paar Schlaglichter auf Besonderheiten: Mit dem Song Decode schafften es Paramore auf den Soundtrack zur Verfilmung der Twilight-Fantasy-Saga. Hayley Williams ist befreundet mit Taylor Swift, in deren Shows sie schon berührende Gastauftritte hatte. Damit erreichen Williams und Band ein riesiges Fanspektrum von der eingefleischten Alternative-Szene bis zum weltweiten Chartspublikum. Williams ist Stilikone, wechselt Outfits und Hairstyles in schwindelerregender Frequenz und wurde mehrmals bei Leserumfragen in Rockmagazinen zum „Sexiest Female Artist“ gewählt – gleichzeitig macht sie keinen Hehl aus Ängsten, Unsicherheiten und depressiven Phasen in ihrem Leben, die sie häufig auch in ihren Songs thematisiert. „Mental health“, ein großes Thema. So ist Williams Rolemodel für gerade durchstartende Lifestyle-Hedonisten und pubertierende Kids im Selbstfindungsprozess gleichermaßen, was eigentlich einen kaum zu bewältigenden Spagat darstellt. Und doch prägt er ganz selbstverständlich auch die teils bizarren bis gruseligen, teils extrem geschmackvollen, mitreißenden Videos. Die Vollblutmusiker und -produzenten wiederum, mit denen Williams zusammenarbeitet, haben sämtliche Genregrenzen hinter sich gelassen und wissen, was sie tun. Die Musik harmoniert auf eigenartige Weise mit der alles andere als rockigen Leadstimme, die trotzdem kraftvoll wirkt und erstaunlich viele Nuancen entwickelt. Was da im Kollektiv abgeliefert wird, ist – genauso wie die Lyrics – überraschend klischeefrei, stilistisch breit gefächert, auch frei von Selbstzitaten oder Wiederholungen. Williams und Paramore rennen keinen Trends hinterher, sondern kultivieren konsequent ihren eigenen freien Sound. Und obwohl sie inzwischen riesige Stadien füllen und auf der Bühne die einen oder anderen einstudierten Moves auspacken, gehen sie live nicht etwa zum glamourös-blendenden Show-Brimborium über, sondern bleiben, auch mal selbstironisch, auf dem Teppich. Im Grunde haben sich Williams und Paramore – trotz intensiver Selbstinszenierung, auch in den sozialen Medien – bis heute einen gewissen Alternative- und Indie-Charme bewahrt, und die gern demonstrierte Nähe zu den Fans scheint nicht gespielt. Tatsächlich kann man sich diese großen Stars noch immer auch in einem kleinen Szeneclub vorstellen.
Apropos Lyrics: Die sind ebenfalls eine Erkundung wert – bilderreich, gelegentlich kryptisch, aber nie manieriert oder überladen. Eher suchend, dabei schonungslos offen und gern auch furztrocken. Banddynamiken werden poetisch reflektiert, dazu seelische Abgründe, wobei es immer wieder Hoffnungsschimmer gibt. Am liebsten würde ich hier Vers um Vers zitieren, doch ich belasse es bei dem Einstiegsvers zu einem Song mit dem denkwürdigen Titel Ego Death at A Bachelorette Party, „Egotod bei einem Junggesellinenabschied“, es ist der Titelsong des aktuellen Williams-Soloalbums. Der Gesamtkontext ist schwer zu fassen, es scheint um eine Frau zu gehen, die sich künstlerisch zu Höherem berufen fühlt, aber doch nie über deprimierende Auftritte bei Junggesellinnenabschieden, bei Gesangswettbewerben in der Provinz oder auch in „fucking“ Karaoke-Bars hinauskommt. Vielleicht eine Empfindung aus Williams’ Anfangsjahren? Oder eine Abrechnung mit drögen, einengenden gesellschaftlichen Ritualen und Strukturen? Der Vers lautet: „I’ll be the biggest star at this racist country singer’s bar“ – „Ich werd’ der gößte Star in dieser rassistischen Countrysänger-Bar“. Der mutige Vers deutet schon die ganze Tragik der Hauptfigur an, die später noch erkennen wird: „No use shootin’ for the moon, no use chasing waterfalls“. Etwas derart Simples und gleichzeitig Tiefgründiges muss man erst mal texten. Bei allem Drang zum Sprengen von Grenzen und zur intensiven Nabelschau haftet Williams und Paramore etwas sehr „Amerikanisches“ an, und damit auch etwas Fremdes, für Europäer schwer zu Greifendes, gerade in der turbulenten heutigen Zeit. Vielleicht einer der Gründe, warum diesem Ausnahme-Ensemble der große Durchbruch hierzulande bisher verwehrt geblieben ist.
Musikfans kennen das erfüllende Gefühl, das sich einstellt, wenn man sperrig wirkende Künstlerinnen und Künstler samt ihrer Musik erst allmählich kennenlernt und versteht … oder zu verstehen glaubt. Nicht alles wirkt sympathisch, manches befremdet, doch insgesamt überwiegt die Faszination. Die neu entdeckte Musik wird zum aufbauenden Begleiter, und das auf längere Zeit. Auch das Oeuvre von Paramore und Hayley Williams muss man sich Song für Song, Album für Album, Video für Video erschließen. Hier fünf weitere Tipps für den Einstieg:
Now Ein Song aus früheren Zeiten – aufrüttelnder Alternative-Rock mit hymnischem Refrain: „If there’s a future we want it NOW!“ – „Wenn es eine Zukunft gibt, dann wollen wir sie JETZT!“ Das nicht minder aufrüttelnde Video entwirft ein brutales Kriegsszenario. Hayley Williams beendet die Gewalt – naiv und ergreifend zugleich – mit einer Umarmung …
Hard Times Betörender Groove, depressive Lyrics – ein bewusster Widerspruch. Das Video aber versprüht Humor und Lebensfreude. Einer der größten Hits für Paramore – auch hierzulande gelegentlich im Radio zu hören.
Leave It Alone Fängt gewöhnlich, beinahe langweilig an, entfaltet aber bald einen meditativen Sog. Das Video ist eins der bizarreren Sorte, die Lyrics erzählen von Verlust und der Wahrheit, die tötet. Und doch klingt auch hier der Lebenswille durch, das Song-Ich kann nicht davon lassen: „Can’t leave it alone“ …
Running Out of Time So klangen Paramore zuletzt, rhythmisch und soundtechnisch raffiniert, sogar leicht experimentell. Im Songtext geht es um einen Menschen, der völlig verhuscht ist, sich überfordert fühlt und ständig zu spät kommt, auch im übertragenen Sinne. Im nichtsdestotrotz unterhaltsamen Video wird die Realität zur morbiden Fantasy-Show – Alice grüßt aus dem Wunderland. Ja, ständig hecheln wir unmenschlichen Erwartungen hinterher. Und nein, an belanglosen Alles-easy-Botschaften ist diese Band nicht interessiert.
Watch Me While I Bloom Aber auch so kann Hayley Williams klingen – fröhlich, selbstgewiss, positiv. „How lucky I feel to be in my body again … Watch me while I bloom“, heißt es im Text, „Wie glücklich ich mich fühle, wieder in meinem Körper zu sein … Sieh mir zu, während ich erblühe“, das alles über einem gut gelaunten Groove. Und man hofft, dass Paramore und Williams noch ein Weilchen weiterblühen.
Ein paar Gedanken zur Popmusik und zu meinem neuen Buch „Playlist zum Glück“
Es fällt nicht leicht, mit der Zeit zu gehen. Vor allem wenn man weiß, wie es vor einem halben Jahrhundert war. Damals, in den 1970ern, hatte Popmusik noch einen anderen Status, sie war anders präsent, gleichzeitig greifbarer und halbwegs überschaubar. Als immer noch neuer, spektakulärer, teils skandalöser Sound einer aufbegehrenden Generation drängte sie in die Öffentlichkeit und in die führenden Medien – wer damals up to date sein wollte, brauchte nur ein paar wenige einschlägige Radio- und Fernsehsendungen kennen, zwei, drei relevante Zeitschriften lesen und ab und zu den DJ in der Disco des Vertrauens befragen. In den Charts tummelten sich aufmüpfige Rock-Acts neben Schlagerstars, popmusikalische Provokationen zielten auf Bewusstseinserweiterung und progressive gesellschaftliche Veränderung, die Vinylschallplatte und das Tonband waren die magischen Medien der Stunde. Ich erinnere mich noch daran, wie man als Kunde in größeren Plattenläden ein paar angesagte neue Scheiben aus den Fächern zog, damit zur Theke stapfte und das Personal bat, sie aufzulegen. An einem von mehreren Kopfhörerplätzen durfte man dann reinhören, um anschließend eine gut begründete Kaufentscheidung zu treffen – wenn man sich nicht schon vorher nach reichlich Musikgenuss mit leicht schlechtem Gewissen davongestohlen hatte.
Ein endloser, manchmal überfordernder Strom
Es folgten technische Veränderungen und die Aufsplitterung der Popmusik in immer mehr Genres und Subgenres. Plötzlich wurde es digital und unübersichtlich. Die Audio-CD und neue mediale Formate wie Fanzines und Spezialsendungen erlebten eine kurze Blütezeit, dann riss das Internet endgültig alles mit sich. Heute hat sich die Art und Weise, wie Musik produziert, verbreitet, reflektiert und konsumiert wird, grundlegend verändert. Klar wird auch 2025 noch Radio gehört, aber mindestens genauso häufig wird Musik gestreamt, verpackt in Abomodelle und in Playlists für die unterschiedlichsten Genres, Anlässe und Stimmungen. Was gespielt wird, ist immer häufiger nicht mehr von Menschen kuratiert, sondern von undurchschaubaren Algorithmen gesteuert – und Musikschaffende, die nicht zu den Superstars zählen, was auf die überwältigende Mehrheit der Acts zutrifft, haben deutlich weniger Umsatzchancen als in früheren Zeiten. Musik ist ein endloser, manchmal überfordernder Strom geworden. Die Inhalte und die Stars werden immer weniger greifbar – und das am Ende auch im wörtlichen Sinne: Man muss nur an die schwindende Bedeutung von funkelnden Tonträgern mit kunstvoll gestalteten Covern samt grafischen Gimmicks und Abdruck der Lyrics denken.
Auch was das kontroverse Potenzial von Popmusik betrifft, hat sich viel verändert. Noch heute provozieren Songs und sorgen für Zündstoff, keine Frage – doch in vielen Provokationen der vergangenen zehn, zwanzig Jahre spiegelt sich ein reaktionärer Backlash. Wer zuletzt anecken und schocken wollte, tat das nicht mehr mit Sozialkritik, Protest und einer besonders liberalen Haltung, sondern mit ironiefreiem Gangsta-Rap samt misogynen, homophoben, antisemitischen Parolen; oder kokettierte herausfordernd mit rechtspopulistischen Positionen. Pop dieses Kalibers besetzt regelmäßig die Spitzenplätze der Charts, und die entfernen sich immer weiter von den Programmen der großen Radio- und Fernsehsender. Wer beispielsweise auf der Autobahn durch Deutschland fährt und sich durch die von Bundesland zu Bundesland wechselnden 1er-, 2er-, 3er-, Info-, Service- und Jugend-Wellen zappt, hört die immer gleichen massenkompatiblen Titel, jeweils zugeschnitten auf ein bestimmtes 80er-, 90er-, Schlager-, Klassik- oder Youngster-Publikum. Das soll nicht falsch verstanden werden: Gegen Kurzweil und leichte Unterhaltung ist nichts einzuwenden, zudem handelt es sich meist um gute und gut gemachte Programme. Doch sie sind omnipräsent und leben von gängigen oder gut abgehangenen Titeln, die auch gern mal zu Tode genudelt werden. Die wirklich aufregende, auch kritische und innovative, nicht alltägliche neue Popmusik dagegen wird seit der Jahrtausendwende kontinuierlich aus der Öffentlichkeit verdrängt: auf immer weniger Sendeplätze zusammengepfercht, zu immer späterer Stunde ausgestrahlt und mehr und mehr ins Privat- beziehungsweise Indieradio verlagert oder ganz in die endlosen Weiten des Internets abgeschoben. Verschärft wird diese Entwicklung durch antiliberale Meinungsmache und durch Sparzwänge, denen viele beliebte Sendungen, Teile von Redaktionen und manchmal ganze Wellen zum Opfer fallen. Ein schlimmer Trend, der ganz nebenbei auch die Kultur- und Kulturförderungsinstitutionen erfasst hat.
Spannende Musik, neue Vermittlungsformate
Mit anderen, allgemeineren Worten: Früher kam die elektrisierende Musik fast von allein zum Fan – heute muss der Fan die elektrisierende Musik umständlich suchen: über Bandportale und Tipps in den sozialen Medien, über das Eintauchen in die unüberblickbare Welt der Internetradios, das Studium teurer Spezialmagazine, spontanes Shazamen in den unmöglichsten Situationen oder über Online-Shopfunktionen wie „Ähnliche Titel/Interpreten“. Das Gute ist: Es gibt sie, diese elektrisierende Popmusik, immer wieder und in immer neuen Ausprägungen. Und: Es wachsen neue Vermittlungsformate nach. Diese werden meist realisiert von engagierten Music Lovers, die ehrenamtlich, mit kleinem Budget oder unterstützt durch Werbeeinnahmen und Spenden ans Werk gehen. Die Rede ist von genreübergreifenden Musikpodcasts wie „Mein Lieblingssong“ (Stephan Falk und Andreas Ryll, Köln/Mönchengladbach), „Kulturmenü“ (Angelika Ortner, Wien) oder „Life in Mixtapes“ (Christian Stangl und Lukas Filipek, Wien), aber auch von E-Mail-Magazinen wie „Zwischen zwei und vier“ (Melanie Gollin und Rosalie Ernst, Berlin) oder dem E-Mail-Newsletter „Ein Song Reicht“.
Gerade „Ein Song Reicht“, benannt nach einem Song der gewitzten Chemnitzer Rockband Kraftklub, beschreitet einen ungewöhnlichen Weg. Jeden Tag versenden der Leipziger Musikmanager Fabian Schuetze und der Musikjournalist Martin Hommel einen Newsletter, in dem eine mehr oder weniger bekannte Persönlichkeit einen einzigen Song empfiehlt – mit Link zum Video und einer Begründung der Wahl. „Da wir die Szene im eigenen Land stärken wollen“, so die Macher, „stellen wir nur eine Bedingung: Die vorgestellten Songs müssen von Musiker*innen stammen, die in Deutschland leben. Nationalität, Herkunft, Art der Musik, Erscheinungsdatum und Sprache, in der gesungen wird, sowie Bekanntheit der Künstler*innen sind dabei nebensächlich.“ Vor dem Hintergrund des Schwunds an engagierten Musikmagazinen und verfügbaren Slots im Radio, aber auch mit Blick auf den Streaming-Wahn, an dem vor allem die Portalbetreiber verdienen, möchten Schuetze und Hommel „durch die Fokussierung auf nur einen Song pro Tag und die Wahl des Kanals – der Maileingang als deutlich ruhigeres und wertigeres Umfeld – eines erreichen: Tolle Musik mit einem interessierten Publikum zusammenbringen und dem einen vorgestellten Song echte und relevante Aufmerksamkeit und Reichweite bringen. Wir möchten hochwertige Musik aus Deutschland ins Scheinwerferlicht stellen und ein großes Schaufenster bieten.“
Der Sound des Unbewussten
„Ein Song reicht“ ging im März 2024 an den Start und bedankt sich auf der Website bei aktuell über 15.000 Subscribern. Der Einstieg ist für Neulinge kinderleicht – zum einen genügt ein Klick, um sich für den Newsletter anzumelden, zum anderen lässt sich im Archiv schnell nachverfolgen, wen und was man bisher verpasst hat. Das Projekt steckt voller Überraschungen, denn schon die Empfehlenden kann man nur in wenigen Fällen als echte Prominente bezeichnen. Sie stammen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen – aus Kunst, Musik, Film oder Theater, aus Kulturbusiness und Politik, Wirtschaft, Sport, aus den Medien oder der Kreativszene – und bilden Diversität in all ihren Facetten ab. Sie sind in die unterschiedlichsten Tätigkeiten und Projekte involviert, zu denen man als Abonnent gern mal weiterrecherchiert. Doch auch die empfohlenen Acts und Songs sind alles andere als Mainstream. Vom kreativen jungen Erwachsenen, der gerade seinen zweiten Home-Track produziert hat, bis zur routinierten Bandleaderin ist alles dabei. Der Queerness-Faktor ist hoch, und die vielfach nur in In-Kreisen bekannten Stücke stammen aus den unterschiedlichsten Genres – das Spektrum reicht von Indierock, Rap und Chanson bis Ambient, Türk Pop, Electronica und House.
Angesichts dieser enormen Vielfalt wird man als Subscriber nur alle paar Tage oder Wochen eine Songentdeckung machen, die den eigenen Geschmack voll und ganz trifft. Doch es geht ja auch darum, zu entdecken, was sich so alles tummelt (und mal getummelt hat) in der deutschen Musikszene – und in dieser Hinsicht leistet „Ein Song Reicht“ ganze Arbeit. Viele Songs befassen sich mit sozialen Themen, erzählen von Ausgrenzung und Empowerment, von Stress und Orientierungslosigkeit, von Ängsten und psychischen Problemen. „In einem Gespräch sagte neulich jemand zu mir, in der Popmusik gebe es im Moment einen Overkill an Songs über Mental Health“, schreibt Gloria Grünwald, Moderatorin bei egoFM und Macherin eines eigenen Musikprojekts namens Greenwald, zu ihrer Empfehlung für „Ein Song Reicht“. „Das denke ich nicht. Wie kann ein Thema erschöpft sein, wenn wir noch immer nicht an dem Punkt sind, dass sich alle ohne Angst vor Verurteilung darüber äußern können? Wir arbeiten dran, oder? ‚Stabil‘ von AB Syndrom ist ein weiterer wichtiger Song in diesem Prozess, der die Message transportiert: Du bist nicht allein. Und um Empathie wirbt. Denn viele Struggles sind von außen nicht sichtbar.“ Und weiter: „AB Syndrom fliegen trotz Hits wie ‚Flaggschiff‘ oder ‚Bora Bora‘, mehreren spitzenmäßigen Alben und Songs mit Mine noch immer unter dem Mainstream Radar – wird Zeit, dass sich das ändert!“
So macht „Ein Song reicht“ nicht nur einen facettenreichen musikalischen Underground sicht- und hörbar, der unter der flauschigen Mainstream-Pop-Oberfläche floriert, sondern, wenn man so will, auch das Verdrängte, das im Unterbewussten unserer Gesellschaft gärt. Das Leiden an und das Ringen mit gesellschaftlichen und Geschlechter-Normen, die Auseinandersetzung mit Leistungsdruck, sozialer Ungerechtigkeit und Perspektivlosigkeit, mit dysfunktionalen familiären Strukturen und komplizierten Liebesbeziehungen ziehen sich trotz zahlreicher Motivations- und Gute-Laune-Tracks wie ein roter Faden durch die „Ein Song Reicht“-Empfehlungen.
Der Therapie-Faktor
Natürlich hatte Popmusik schon immer auch mit der Verarbeitung von persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen zu tun, mit dem Kampf gegen Traumata, mit Empowerment. Doch mindestens genauso wichtig, wenn nicht wichtiger waren über Jahrzehnte hinweg das Abenteuer, der Ausbruch, das Sprengen von Grenzen, politische Veränderung, die lustvolle Selbstinszenierung, die ganz große Geste, das sinnliche Erleben, der größtmögliche Spaß. Heute scheint der selbsttherapeutische Aspekt des Musikmachens an Bedeutung gewonnen zu haben. Gleichzeitig rückt der therapeutische Effekt von Musik und speziell von Popmusik auch für uns, die Fans, stärker in den Fokus. Dass Songs uns begleiten und pushen, dass sie Trost spenden und uns vermitteln, mit unseren Sorgen und Nöten nicht allein zu sein, war schon immer so und wird durch Millionen von Kommentaren in Fanforen und unter Youtube-Videos bestätigt. Doch längst beschwören auch Buchautorinnen und -autoren die heilsame Wirkung von Popmusik auf das Publikum, werden Songs zum Thema für Mental-Health-Experten und Life-Coaches.
Schon 2019 veröffentlichte der Psychologieprofessor Stefan Kölsch ein Buch mit dem Titel „Good Vibrations – die heilende Kraft der Musik“, für das zweite Halbjahr 2025 sind gleich mehrere Bücher angekündigt, die erklären, warum Musik, und damit auch Popmusik, uns glücklicher, gesünder, intelligenter und friedlicher macht, wie wir durch Musik schlau werden und, Achtung, wie eine kraftvolle Verbindung von Achtsamkeit und Heavy Metal aussehen kann. Schon ganz aktuell auf dem Markt ist mein neues Buch „Playlist zum Glück – 99 ½ Songs für ein erfülltes Leben“. Es erschien Ende März wie schon der Vorgänger „Mein Herz hat Sonnenbrand“ beim renommierten Reclam-Verlag, der in den letzten Jahren eine beeindruckende Sparte an spannenden Musiksachbüchern aufgebaut hat – auch das ein Impuls in Sachen „Neue Musikvermittlungsformate“, wenn man so will.
Playlist zum Glück
Die „Playlist zum Glück“ ist eine nicht ganz alltägliche Kombination aus Musiksachbuch und Lebensratgeber. Es geht nicht einfach nur um tolle Songs, die berühren und uns ein gutes Gefühl geben – dazu könnte man tatsächlich ganze Regalwände an Büchern schreiben. Nein, die Songs, die vorgestellt werden, zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie in ihren Lyrics konkrete Tipps zur Lebensführung formulieren oder dass sich solche Tipps zumindest deutlich aus den Texten heraushören lassen. „Das Universum und wir“, „Haltungen, die den Alltag leichter machen“, „Liebe und Partnerschaft“, „Resilienz“, „Veränderungen managen“, „Getting Started“, so lauten die Kapitelüberschriften, und sie deuten schon die Motivation hinter dem Buch an. Unsere globalisierte Welt stellt uns fast täglich vor neue Herausforderungen, immer wieder müssen wir uns neu einstellen, uns neu erfinden, hinzu kommen internationale Krisen wie Pandemien und Kriege, die uns Sorgen bereiten. Wenn Songs uns positiv begleiten, uns trösten und motivieren können, dann wäre doch eine Playlist aus Stücken von Interesse, die uns nicht nur emotional, musikalisch, sondern auch textlich Orientierung in diesen turbulenten Zeiten bieten. Die 99 ½ Songs samt Lebensführungstipps werden ergänzt durch zahlreiche Empfehlungen zum Weiterhören, es gibt also einiges zu entdecken, auch an inspirierenden Gedanken und potenziellen neuen Lieblingssongs.
Über den Zustand der Popmusik und die aktuellen Zeitströmungen habe ich mir beim Schreiben des Buchs keine Gedanken gemacht. Aber wenn man das Playlist-Format betrachtet, den Fokus auf die heilsame Wirkung von Songs, die Tatsache, dass auch der eine oder andere Act aus dem „Ein Song Reicht“-Newsletter den Weg in mein Manuskript gefunden hat, sowie den Umstand, dass ich in den genannten Musik-Podcasts schon zu Gast war oder zu Gast sein werde, dann hat meine „Playlist zum Glück“ wohl den Finger am Puls der Zeit.
Oper und Operette, Klassik, Neue Musik, Varieté-Songs, Jazz: Es gäbe ja so viel zu entdecken neben Pop und Dance … wenn der Weg dorthin nicht durch unsichtbare Hürden verbaut wäre. Der Gedanke, sich erst durch tonnenschwere Lexika lesen zu müssen, um zu einem Verständnis der zunächst fremd klingenden Stücke zu gelangen, schreckt ebenso ab wie die kaum durchdringbare Fülle an Werken, die anstrengende Ernsthaftigkeit der Musikwissenschaft oder der Dünkel eingefleischter Feuilletonistinnen und Feuilletonisten. „Kulturmenü“ dagegen, der außergewöhnliche Podcast der Wiener Pianistin Angelika Ortner, ermöglicht mit erhellenden Gesprächen samt passenden Musikeinspielungen einfache, vorurteilsfreie Zugänge – und schlägt ganz nebenbei die Brücke zu Pop und Rock. Grenzenlos lehrreich, ausnahmslos unterhaltsam.
„Ich spreche mit meinen Gästen über bekannte Musikstücke aus allen Stil- und Zeitepochen. Wir hören passende Musikbeispiele und versuchen in unseren Gesprächen, einen neuen Zugang zur Musik zu ermöglichen.“ So beginnt jede Folge des Podcasts „Kulturmenü“, den die Wiener Pianistin Angelika Ortner im April 2021 ins Leben gerufen hat. Und dann geht es auch schon in medias res – wird eine Arie, eine Symphonie oder eine Sonate, ein Chorwerk oder ein Stück Filmmusik, ein Jazzstandard oder ein Rocksong unter die Lupe genommen, und das auf sympathisch-lockere, Interesse weckende Weise. Pro Folge gibt es einen Gesprächspartner oder eine Gesprächspartnerin, und dieses Gegenüber – das ist das Besondere – kommt selten aus dem Hörsaal oder aus der Forschung, sondern in der Regel aus der musikalischen Praxis, manchmal auch aus der schreibenden Zunft. Gerade dieser Ansatz ermöglicht selbst den Laien und Musikinteressierten mit Berührungsängsten im Publikum einfache, spannende Zugänge. Es ist eben ein Unterschied, ob ein Musiktheorie-As bierernst und unter Verwendung zahlreicher Fachbegriffe eher abschreckend über ein schwer zugängliches Werk doziert oder ob Menschen, die dieses Werk aufführen, vielleicht auch auf andere Weise mit ihm verbunden sind, über ihre eigenen Erfahrungen berichten. Wenn also ein Dirigent seine Herangehensweise erklärt, ein Solist die Finessen einer genialen Improvisation beschreibt oder ein Rockmusiker von persönlichen Begegnungen mit den Schöpfern eines Hits erzählt und alle zusammen vermitteln, was das jeweils besprochene Stück für sie persönlich bedeutet, taucht man automatisch ein in die Arbeit an und mit Musik und wird von ganz allein neugierig. Am Ende jeder Folge weiß man garantiert mehr als am Anfang und spürt, wie der eigene musikalische Horizont sich weitet.
Angelika Ortner hat am MUK der Stadt Wien, dem ehemaligen Konservatorium, Klavier und Klarinette studiert, absolviert regelmäßige Auftritte als Solistin und wirkte an zahlreichen Studioaufnahmen mit. Daneben ist sie in der Korrepetition mit Sängerinnen und Sängern (Staats-und Volksoper) sowie mit Instrumentalist:innen tätig. Den „Kulturmenü“-Podcast beschreibt sie als ihr „Herzensprojekt“, geschmäcklerische Barrieren und Vorbehalte gegenüber der Popkultur kennt sie nicht. „Was zählt, ist spannende, interessante Musik“, sagt sie, „und die gibt es zu jeder Zeit, in jeder Sparte.“ Schon mehr als 80 Folgen ihres grenzenlos lehrreichen und ausnahmslos unterhaltsamen „Kulturmenü“-Podcasts hat sie produziert. Die Folgen sind im Schnitt 55 Minuten lang, aber die Hörzeit vergeht wie im Flug. Ein feiner Zug ist auch die immer gleiche Schlussfrage, die Angelika Ortner seit geraumer Zeit jedem Gast stellt: Was können Kunst und Kultur zu einer besseren Zukunft beitragen? Allein für die vielschichtigen Antworten auf diese Frage lohnt es sich, bis zum Ende dranzubleiben.
Wichtig ist der „Kulturmenü“-Macherin der unmittelbare persönliche Kontakt, also ein Treffen in der analogen Welt. Nur so entstehe ein wirklich vertrauensvolles, intensives und produktives Gespräch. Die Produktion muss nicht in Wien stattfinden, die Podcasterin nimmt auch mal ihr Equipment mit auf Reisen, wenn sich auf diese Weise ein Treffen realisieren lässt. Doch hat diese Herangehensweise auch zur Folge, dass manchmal viele Monate vergehen, bis das Gespräch mit einem Wunschgast stattfinden kann. Immerhin: Bisher hat sich das Warten stets gelohnt. Sämtliche Folgen sind übersichtlich auf der „Kulturmenü“-Website aufgelistet und durch einen Klick abspielbar.
Los ging es im April 2021 mit Jörg Schneider. Der Tenor der Wiener Staatsoper sprach über die Schwierigkeiten und Schönheiten der Arie Nessun dorma aus Giacomo Puccinis Oper Turandot. Über die anspruchsvollen Passagen und Besonderheiten von Claude Debussys Claire de Lune, einem der berühmtesten Werke der Klavierliteratur, diskutierte Angelika Ortner mit einem Kollegen, dem Pianisten Hyung-ki Joo. Für ihn kreiert das Stück auch einen Raum von Ewigkeit. What A Fool Believes von den Doobie Brothers, das Phänomen „Yacht Rock“ und ein bestimmtes Summer-Feeling waren Themen eines Gesprächs mit dem Musikjournalisten und Radiomoderator Eberhard Forcher. Der Beatles-Song Come Together, aber auch Plagiatsvorwürfe, Coverversionen, Dialektgedichte und Verschwörungstheorien ließen wiederum den selbsternannten Beatle-ologen Georg Breinschmid ins anregende Plaudern kommen. Und am Beispiel des Bossa-Nova-Klassikers Desafinado erzählten Patricia und Arnoldo Moreno über das Singen auf Portugiesisch, die Zusammengehörigkeit von Stimme und Gitarre und die ungewöhnlich beruhigende Wirkung von Bossa Nova.
Man muss einfach noch weitere Folgen erwähnen, um die ganze Dimension dieses Podcasts zu umreißen. So nahm der österreichische Trompeter Thomas Gansch Dizzy Gillespies A Night in Tunisiazum Anlass für ein paar erhellende Ausführungen über den Bebop und das Improvisieren – ganz nebenbei erfuhr man, was ein Solo-Break ist. Bruckner-Biograf und Musiker Norbert Trawöger steckte mit seiner Begeisterung für das Chorwerk Locus iste an und verriet, dass sogar Fußballfans ein Stück von Anton Bruckners 5. Symphonie im Stadion singen. Und während Dirigent Daniel Beyer inspirierende Gedanken zum aufwühlenden Adagietto von Gustav Mahler beisteuerte, fand Christoph Huber, Kurator des Österreichischen Filmmuseums, passende Worte, um zu erklären was die Faszination von Ennio Morricones Kompositionen für die Soundtracks von Italo-Western wie Spiel mir das Lied vom Todausmacht. Ja, auch der deutsche Musiker und Entertainer Götz Alsmann war schon bei Angelika Ortner zu Gast, erzählte pointenreich Anekdoten rund um Bert Kaempferts jazzigen Schlager L-O-V-E. Für noch einmal ganz andere Einsichten sorgte dann wieder die Sopranistin Camilla Nylund, als sie über die starke Rolle der Elsa in Richard Wagners Oper Lohengrin, über das Sterben auf der Bühne, Wagners Frauenbild und weitere Figuren in seinen Opern reflektierte.
Einer darf in einem Musik-Podcast aus Österreich natürlich nicht fehlen, und das ist Falco. Wobei die Ausführungen von Falco-Bandleader und -Keyboarder Thomas Rabitsch zum Hit Der Kommissar, aber auch zur Textarbeit und zur musikalischen Entwicklung von Österreichs größtem Popstar nicht nur für eingefleischte Fans erhellend sein dürften. Zu den jüngsten Highlights gehören der Puppenspieler Nikolaus Habjan mit spannenden Einblicken in die Kunst des Puppenspiels, aufgehängt am „Muppets Show“-Hit Mah Na Mah Na, sowie der Rocksänger Roman Gregory mit grotesken Geschichten über persönliche Begegnungen mit der Rockband KISS und das Besondere am Disco-Rock-Mix im KISS-Klassiker I Was Made for Lovin‘ You.
Dass Angelika Ortner reges Feedback auf ihren Podcast bekommt, versteht sich von selbst. Am schönsten ist es für sie, wenn sie erfährt, dass sie jemanden inspirieren konnte, Neuland zu betreten – so wie den jungen Mann, der sich nach Anhören einer Podcast-Folge erstmals in ein komplettes klassisches Werk vertiefte und großes Vergnügen empfand. „Auch und gerade für solche Momente“, sagt Angelika Ortner, „mache ich diesen Podcast.“ Mich persönlich inspirierten die Ausführungen von Alois Glaßner, Professor für Chordirigieren, zu den Möglichkeiten, ein auch für ihn schwer zugängliches Stück wie Friede auf Erden mit Sängerinnen und Sängern einzustudieren, Arnold Schönbergs letztes tonales Werk für A-cappella-Chor. Wenn Glaßner von den ruhigeren Passagen als Ankerpunkten, wiederkehrenden Motiven und einem emotionalen Verständnis spricht, erschließt sich allmählich die eigentümliche Schönheit dieses Werks.
Grundsätzlich steht im Mittelpunkt jeder „Kulturmenü“-Folge ein bestimmtes einzelnes Musikstück. Warum ich kürzlich selbst eingeladen war, um für Folge 82 gemeinsam mit Angelika Ortner ein humorvolles Spezial zu meinem Buch Mein Herz hat Sonnenbrand: Über schiefe bis irrwitzige Songtexte aus 60 Jahren deutscher Popmusik zu bestreiten, lässt mich immer noch gelegentlich stutzend schmunzeln. Dabei liegt die Antwort doch auf der Hand: weil das „Kulturmenü“ einfach offen für vieles ist und immer für eine Überraschung gut.
Kaum zu glauben: Die kanadische Band SAGA hatte ich in den letzten Jahrzehnten komplett vergessen. Und ich meine wirklich: komplett. Bis sie sich für einen Zwischenstopp in Bad Vilbel ankündigte. Nach mehreren überraschenden Hörsessions und einem feinen Konzert ist alles wieder da. Und das ist gut so.
Kennen Sie Jason Bourne? Das ist der Kino-Actionheld, der schwer verletzt und ohne Erinnerung aus dem Mittelmeer gefischt wird und seine Identität wiederentdecken muss. Unter anderem findet er heraus, dass er Teil eines Geheimprojekts der CIA war. Was das mit „tedaboutsongs“ zu tun hat? Nun, zumindest mit Blick auf die Musik habe ich mich zuletzt tatsächlich ein bisschen wie Jason Bourne gefühlt. Ich hatte es lange vergessen und musste neu entdecken: Ich war mal Fan von SAGA.
Es fing damit an, dass vor einiger Zeit Wind Him Up, SAGAs großer Hit von 1981, wieder verstärkt im Radio gespielt wurde. Hatte ich schon mal gehört, gefiel mir. Meine Frau sagte, sie fände SAGA gut, und als es hieß, die kanadische Band komme mal wieder zu Konzerten nach Deutschland, erkundigten wir uns nach Karten: paarunfünfzig Euro das Stück – bei den aktuellen Preisen ein echtes Schnäppchen. Uns war klar: So jung und so günstig kommen SAGA und wir nicht mehr zusammen. Also entschieden wir uns für einen Besuch des Konzerts in Bad Vilbel.
Ich fand kein einziges SAGA-Album in meinem Plattenregal, keinen einzigen SAGA-Song in meiner iTunes-Mediathek … und abgesehen von Wind Him Up, diesem vermeintlichen One-Hit-Wonder, nicht den Hauch einer Spur in meinem Gedächtnis. Schlimmer noch: Phasenweise verwechselte ich die Band sogar mit einer anderen Band aus Toronto, nämlich Rush. Und die waren bei aller Virtuosität immer etwas anstrengend gewesen. Dem SAGA-Konzert sah ich daher mit einer gewissen Neugier entgegen, der Bereitschaft, mich mal wieder überraschen zu lassen. Bis wir eines launigen Abends auf die schöne Idee kamen, uns via YouTube auf das Konzert in Bad Vilbel einzustimmen. Beim ersten Stück, das wir hörten, klingelte noch nichts. Doch dann fügten sich die Puzzlestücke immer rascher zusammen. Wie bei Jason Bourne kehrte Schritt für Schritt die Erinnerung zurück. Plötzlich konnte ich komplizierte Breaks auf der Tischplatte mitvollziehen, per Luftgitarre und imaginiertem Keyboard schwindelerregende Soli und Doppelsoli „mitspielen“, den einen oder anderen Refrain mitsingen. Es war erstaunlich: Ich kannte ziemlich viel von SAGA. Und ich mochte es.
Es dauerte dann noch ein paar Tage, bis ich in etwa zuordnen konnte, wann und in welchem persönlichen Umfeld ich mit SAGA in Berührung gekommen war. Wer damals all die Alben besessen hatte, weiß ich nicht mehr, aber offenbar hatten wir in besagter Clique das Zeug zusammen rauf und runter gehört, vermutlich habe ich sogar mal Audiocassetten mit Songs oder Alben von SAGA gehabt. Der Grund für meinen kleinen Amnesieschub? Unklar. Vielleicht liegt es am persönlichen Lebensweg, am Weltgeschehen und an dem, was an aufregender Musik bis heute dazugekommen ist. Da blendet man Details von früher irgendwann aus.
Die große Zeit von SAGA waren die späten Siebziger- bis frühen Neunzigerjahre. Es war die Zeit, in der die Popmusik immer neue Genres, Stile und Substile hervorbrachte, von Punk, Wave und Indierock, Gothic-Rock und Metal über Synthipop und Ambient/Electronica bis hin zu Techno, Trance und House, Drum and Bass, Nu Soul und Rap. SAGA atmeten den Geist von großen Siebziger-Rock- und Artrock-Bands wie Blue Öyster Cult, Wishbone Ash, Genesis, Gentle Giant oder Emerson, Lake & Palmer, kamen aber aufgeräumter, graziler und mit modernerem Sound, etwa Moog-Bass und Synthi-Drums, daher. Gleich mehrere Bandmitglieder, inklusive Frontmann Michael Sadler, waren tastenerprobt, bald gaben ihnen angesagte Topproduzenten wie Rupert Hine den letzten Schliff. Und gerade Michael Sadler hatte einen smarten New-Romantic-Posterboy-Appeal, man schaue sich im Netz kursierende Live-Auftritte aus den Achtzigern an. Wer also aufwendig produzierte Power-Acts wie Foreigner, Toto, Duran Duran oder die eleganten Waverocker The Fixx liebte und es hin und wieder etwas vertrackter, sinfonischer brauchte, wurde von SAGA bestens bedient. So sehr ich auf all die gitarrenorientierten und vollelektronischen Strömungen der damaligen Zeit abfuhr, ich hatte und habe immer auch ein Faible für diesen fein produzierten hochästhetischen Kunstbombast, der Staunen macht und gleichzeitig berührt.
Und jetzt habe ich auch noch die Songtexte von SAGA für mich entdeckt. Damals hatten die spektakulär verspielte Musik und das Fantasy-Artwork der Albumcovers einfach von ihnen abgelenkt. Doch neulich, bei entspannter Neubewertung, fiel mir auf, dass sich auch und gerade die größten SAGA-Hits nicht etwa mit Elfen, Schwertern oder Science-Fiction-Motiven auseinandersetzen, sondern mit sehr ernsten Themen wie Sucht und seelischen Krisen. Jener Protagonist etwa, der da wie aufgezogen durch besagten Hit Wind Him Up geistert, ist der Spiel- und Alkoholsucht erlegen: „Once he starts it’s hard to stop …“ Hinter Humble Stance mit seinen trügerischen Schunkel-Folk-Passagen mag man einen Aufruf zur Demut vermuten, tatsächlich aber geht es darum, dass wer sich klein macht im Leben und zu viel Demut, zu viel Angst zeigt, nicht weit kommen wird: „That humble stance and timid glance makes your world turn so slow / You know, you gotta know / There‘s no one going to help you.“ Wo das hymnische On the Loose im ersten Moment an losgelöstes Feiern und grenzenloses Selbstbewusstsein denken lässt, geraten in Wahrheit Menschen aus dem Gleichgewicht. Zitat: „I see the problem start / I watch the tension grow / I see you keeping it to yourself / And then instead of reaching conclusions / I see you reaching for something else.” Und dann der ernüchternde Refrain: „Noone could stop you now / Tonight you’re on the loose.“ Das etwas ruhigere Stück Time’s Up wiederum warnt davor, tagträumend Chancen zu vertun, und Tired Worldbeschwört eine düstere Endzeitstimmung herauf – nur weil die Menschheit unfähig war, die Welt zu retten. Sänger Michael Sadler litt lange Jahre unter Alkoholsucht, die Band erlebte viele Höhen und Tiefen. Wer weiß, wie viel davon in die Lyrics eingeflossen ist. Insofern sind die von hartgesottenen Indie- und Underground-Fans gern belächelten „Schöngeister“ SAGA mehr Rock ’n’ Roll als manche ihrer scheinbar „taffen“ Kollegen.
Zu den frühen Mitgliedern der Band gehören neben Sadler der Keyboarder Jim Gilmour und der Gitarrist Ian Crichton. Letzterer hatte sich vor der aktuellen Tour das Bein gebrochen. Prompt übernahm der 2018 eingestiegene Bassist Dusty Chesterfield, ein wahres Saiten-Wunderkind, die Gitarrenparts, und es wurde ein neuer Mitstreiter für die vier Saiten engagiert, sein Name ist allerdings nirgendwo im Netz zu finden. Sadler selbst hatte erst vor kurzem aufgrund einer Krebserkrankung operiert werden müssen. Ein Wunder also, dass SAGA diese Tour überhaupt durchziehen können – und ein Beispiel für Willen, Disziplin und Durchhaltevermögen, für Profitum und Flexibilität sowieso. Sadler, inzwischen ein hagerer Kahlkopf mit Rauschebart, ist am 5. Juli 70 geworden. In Bad Vilbel scherzte er zwischen den Songs mit dem deutlich jüngeren Dusty Chesterfield übers Altern. „Du musst lächeln und es ertragen“, gab er sinngemäß zu Protokoll. Die richtige Einstellung. Die Band hatte ihre ersten großen Erfolge in den Niederlanden und in Deutschland, nicht zuletzt hier war ihre Erfolgsgeschichte gestartet. Toll, dass Sadler dafür dem Publikum dankte, sogar mit Ausführungen auf Deutsch.
Und so gab es genügend Gründe, die Band bei ihrem Auftritt in Bad Vilbel zu feiern. Auch wenn Sadler nicht mehr jeden Gesangspart so kraftvoll beherrschte wie damals und der Sound hin und wieder etwas unausgeglichen wirkte, entwickelte das Quintett über zwei Stunden hinweg eine enorme Spielfreude. Die Hits und Bandklassiker, auf die man gehofft hatte, wurden gespielt. Jüngere Fans dürften sich über ein mehrminütiges Schlagzeugsolo von Mike Thorne gewundert haben, so etwas war im letzten Jahrtausend mal angesagt und Bestandteil jeder ordentlichen Rockshow. Die älteren Besucher wiederum, natürlich deutlich in der Überzahl, hatten Verständnis für den einen oder anderen ausufernden Instrumentalteil und unauffällige kleine Auszeiten Sadlers: So konnte sich der Frontmann schonen und bekam immer wieder Gelegenheit, Kraft zu schöpfen. Am Ende des regulären Sets wie nach der ersten Zugabe Wind Him Up gab es Standing Ovations, und die musste man den wackeren Kämpfern einfach gönnen. Wohl nicht ohne Grund lautet das Tourmotto „It Never Ends“.