Wow, ein neuer Berlin-Song von David Bowie, der Altmeister erinnert sich an die Zeit Ende der 70er Jahre, als er in der geteilten Stadt lebte und ein paar bahnbrechende Alben einspielte. So heißt es gern in den euphorischen Kritiken zu Bowies aktuellem Hit Where Are We Now?, den er pünktlich zu seinem 66. Geburtstag als Vorgeschmack auf die neue Lang-CD The Next Day veröffentlichte.
Kurz: Es ist wirklich ein wunderschöner Song, der vor allem die Fans des „alten“ Bowie der 70er und 80er Jahre ansprechen dürfte. Aber was die Zeitebenen und autobiografische Momente betrifft, stellt sich die Sache für mich etwas anders dar. Strophen, Refrain und Sprachbilder sind überraschend simpel gehalten und reihen ein paar bekannte Berliner Locations aneinander, unterbrochen von ein paar mal mehr, mal weniger kryptischen Gedanken: „Had to get the train from Potsdamer Platz / You never knew that… that I could do that / Just walking the dead“, heißt es in der ersten Strophe und: „Sitting in the Dschungel on Nürnberger Straße / A man lost in time near KaDeWe / Just walking the dead.“ Das heißt frei übersetzt etwa: „Ich musste den Zug vom Potsdamer Platz kriegen / Du hättest nicht gedacht, dass ich das… dass ich das jemals tun könnte. / Die Toten begleiten. / Ich sitze im ‚Dschungel’ in der Nürnberger Straße / Ein Mann verschollen in der Zeit um die Ecke vom KaDeWe.“
Wenn man den Zug vom Potsdamer Platz nehmen, also etwas tun kann, was lange nicht für möglich gehalten wurde, dann scheint das Song-Ich über die Zeit des Mauerfalls zu sprechen – also über den Zeitpunkt 1989/90, als man plötzlich von Ost nach West fahren konnte, und umgekehrt. 70er Jahre? Keine Spur. Dieser Eindruck verstärkt sich in der zweiten Strophe, in der es heißt: „Twenty thousand people cross Bösebrücke / Fingers are crossed just in case / Walking the dead“, also: „20.000 Menschen überqueren die Bösebrücke / Sie drücken die Daumen, nur für den Fall, dass… / Die Toten begleiten.“ Die Bösebrücke war der erste Grenzübergang nach dem Mauerfall – die Menschen, die nun herüberströmen, können es noch nicht glauben. Der Mauerfall war ein kaum fassbares weltgeschichtliches Großereignis, was indirekt der Refrain unterstreicht: „Where are we now? / Where are we now? / The moment you know you know you know“, frei übersetzt etwa: „Wo stehen wir jetzt? / Wo stehen wir jetzt? / In dem Moment, in dem du es weißt, weißt du, dass du es weißt.“ Für mich kommt hier das Gefühl zum Ausdruck, dass man im Moment des Erlebens oft nicht begreift, dass man Zeuge eines Ereignisses ist, das die Welt verändern wird. Es dauert eine Weile, bis man realisiert hat, dass nichts mehr ist, wie es vorher war. Und auch wo man „heute“ steht, muss man immer wieder neu ergründen.
Nimmt man diese knappen Aussagen, dann ergibt sich das Bild eines Song-Ichs, das zeitlich entweder in den Jahren 1989/90 verankert ist oder sich aus der heutigen Zeit an damals zurückerinnert. Der Einwurf „A man lost in time“ unterstützt die letztere Vermutung, und dazu passt auch der Refrain: Damals, Mauerfall – und wo stehen wir heute? Was ist nur inzwischen wieder alles passiert? Die wehmütige Stimmung und der langsame, getragene Rhythmus vermitteln den Eindruck, dass sich die Welt unaufhörlich dreht, dass immer wieder Neues passiert, dass man nichts davon wirklich kontrollieren kann. Das Einzige, was man tun kann, ist zu leben und sich mitzudrehen. Fast folgerichtig steigert sich der Song zum Ende hin in die Aufzählung und inständige Wiederholung von wenigen simplen, aber unumstößlichen Gewissheiten, an die man sich klammern kann: „As long as there’s sun / As long as there’s sun / As long as there’s rain / As long as there’s rain / As long as there’s fire / As long as there’s fire / As long as there’s me / As long as there’s you.“ Sonne, Regen, Feuer, du und ich, das ist alles, was zählt im Leben, so scheint der Sprecher sich selbst zu trösten. Man existiert, man liebt, und mehr kann man in dieser verrückten Welt nicht verlangen.
Das sind für mich die Kernaussagen von Where Are We Now?. Ein einfaches Lied über den Lauf der Zeit, die Unberechenbarkeit des Lebens – und über die Liebe als Anker. Von den 70er Jahren und Bowies eigenen Erlebnissen klingt im Text überhaupt nichts explizit an. Das Song-Ich kann während des Mauerfalls kurz in Berlin gewesen sein oder schon immer dort gelebt haben, es kann aber auch lediglich aus der Ferne – über die Nachrichten, am heimischen Fernseher – Zeuge der damaligen Ereignisse gewesen sein. Und doch liegen die Rezensenten nicht falsch, die behaupten, es gehe auch um Bowies eigene Vergangenheit. Hier zeigt sich die Macht der nichtsprachlichen, außertextlichen Elemente, die einen Songtext mit zusätzlicher Bedeutung füllen können.
Denn wenn man sich ein bisschen für Rockmusik interessiert und vor allem wenn man Bowie-Fan ist, weiß man, dass in Berlin Ende der 70er Jahre die Alben Low und Heroes entstanden. Man weiß, wie diese Alben klingen, und Where Are We Now? greift deutlich den Sound und die Stimmung einiger Tracks von damals auf. Low revisited und Heroes in Zeitlupe, das waren meine ersten Höreindrücke.
Und dann ist auch nachzuvollziehen, dass im Text der „Dschungel“ erwähnt wird, jene legendäre Disco, in der sich Ende der 70er Jahre die schillerndsten Rockstars tummelten, natürlich auch Bowie. Zur Zeit des Mauerfalls war der „Dschungel“ allerdings zum Technoschuppen mutiert, und wenn man die Verse „Sitting in the Dschungel“, „A man lost in time“ und „Where are we now?“ zusammendenkt, dann kann man sich hinter dem eigentlich nur wenige persönliche Züge aufweisenden Song-Ich plötzlich auch einen David Bowie vorstellen, der sich um 1989/90 irritiert an das szenige Berlin der 70er Jahre zurückerinnert. À la: Mein Gott, nur zehn Jahre ist das her, wie hat sich alles verändert?! „Ein Mann verschollen in der Zeit“ weckt dann durchaus noch weitere Assoziationen: Lässt hier nicht auch Major Tom noch grüßen, jener Held aus den Bowie-Songs A Space Oddity und Ashes to Ashes, der einst auf einem fernen Planeten strandete?
Was genau mit „Walking the dead“ gemeint ist, bleibt unklar. Es könnten bei Fluchtversuchen aus der DDR getötete Menschen sein, aber auch ganz allgemein die Geister der Vergangenheit – und, durch die „Autobiografie-Brille“ betrachtet, auch die Geister aus Bowies Vergangenheit. Vielleicht seine längst abgelegten Show-Ichs, von Aladdin Sane bis zum Thin White Duke? „Walking the dog“ heißt „den Hund ausführen“, „Gassi gehen“. Führt hier jemand in Gedanken noch mal seine früheren Persönlichkeiten als Verstorbene spazieren?
Ein bisschen „namedropping“, der Sound der späten 70er, das Spiel mit autobiografischen Schnipseln und Protagonisten aus früheren Songs – es ist schon erstaunlich, mit wie einfachen Mitteln Bowie in Where Are We Now? die unterschiedlichsten Bedeutungsebenen „antriggert“. Was man als Hörer daraus macht, bleibt jedem selbst überlassen. Man kann das Stück als wehmütigen Schmachtfetzen genießen, sich selbst ins Song-Ich hineinversetzen und ein Feuerzeug schwenken, man kann die Rückschau eines in die Jahre gekommenen Künstlers heraushören, und man kann, wenn man will, auch ein augenzwinkerndes Eigenlob hineininterpretieren. Denn die Verknüpfung des Mauerfalls mit musikalischen Anspielungen auf eine der kreativsten Bowie-Phasen unterstreicht die rockhistorische Bedeutung des Altstars und seines Oevres, auch wenn ein Bewusstsein davon anklingt, wie sehr sich die Welt und die Musik seit Low und Heroes tatsächlich verändert haben. Gleichzeitig weist das Stück in die Zukunft: Denn nach langer schöpferischer Pause ruft Bowie mit seinen 66 Jahren in die Welt hinaus: „Hey, ich bin noch da, ich will’s noch mal wissen!“ Ob er selbst, der mit bürgerlichem Namen David Jones heißt, um die Zeit des Mauerfalls tatsächlich in Berlin war oder die Ereignisse nur aus der Ferne verfolgt hat, ist, nebenbei bemerkt, gänzlich unerheblich. Das Ich des Songs ist ein höchst stilisierter Sprecher, und der Song macht Angebote auf mehreren Ebenen.
Künstlichkeit und Stilisierung, diese Bowie-Konstanten kommen im Video zu Where Are We Now? noch offensichtlicher zum Tragen. Inmitten einer Rumpelkammer oder eines Ateliers mit vielen sonderbaren Objekten steht eine Leinwand, auf die Filme projiziert werden, davor ein Tisch, darauf ein Holzblock, auf dem zwei Stoffpuppen mit ausgeschnittenen Gesichtern sitzen. Bowie und eine Frau (laut Bowie-Website Jacqueline Humphries, die Frau des Regisseurs Tony Oursler) halten lediglich ihre Gesichter in die Schablonen, wie man erst am Schluss des Videos wirklich erkennt. Im selben Moment merkt man auch, dass Tisch, Puppen und Künstler tricktechnisch einmontiert sein müssen – denn Bowie und Begleiterin sind nicht mehr im Raum zu sehen. Es ist ein irreales Atelier, ein künstlicher Raum, mit dem gespielt wird – genauso wie Bowie hinter dem vordergründigen Zu-Tränen-rühr-Song den altersweisen „Grandseigneur“ gibt, dazu mit seinem früheren Image, mit geografischen Bezügen, mit alten Songmotiven spielt. Mehrere Ebenen „bildbildlich“ also auch im Video. Vieles anreißen, Spekulationen anheizen, Masken aufsetzen, aber letztlich nichts preisgeben, same procedure as every decade. Einfachste Mittel, große Wirkung – schon clever, dieser Bowie!
Bowie schaut definitiv zurück. Er ist sich auch voll bewusst, dass er geht – in Richtung Tod.Doch während man im Alter aufrecht weitergeht, bleibt einem immer der Blick zurück, an die Freude, gemischt mit Angst, sowie die Wahrnehmung, wirklich dabei gewesen zu sein. Im Jetzt, Jahre später, erinnert man sich – an die Angst, die Freude – und spürt dieses dünne Band, verknüpft mit den Orten, die sich nur äusserlich verändert haben, doch der Ort ist natürlich noch da. Solang man aber noch existiert, sich mitteilen kann, andere einbezieht, leben Erinnerungen weiter, auch nach dem eigenen Tod. Er fragt sich wohl, wie manch einer von uns, was bleibt von mir und nimmt – aus meiner Sicht – mit jedem neuen Album,die inneren Hürden, bis hin zur Akzeptanz des Unausweichlichen. Er wird älter, er ist sich seiner Endlichkeit voll bewusst, ohne vor der Konsequenz in eine Scheinwelt zu flüchten. So habe ich seine Musik immer wahrgenommen. Ehrlich.
gute interpretation liest sich gut – auch wenn ich sie erst jetzt gelesen hab.
walking the dead hat von meinem Gefühl her auch sowas wie tot laufen, gelangweilt sein, den tot spauieren führen (im dchungel) aber vielleicht auch eine tödlichere Bedeutung wenn man über die Böse Brücke über den Todesstreifen geht: dem Tod entgegenlaufen, in Gegenwart des Todes gehen, in den Tod gehen, mit dem Tod gehen und dabei die Saumen drücken wäre passend- netter Gedanke: einmal hängt man im Dschungel rum, verloren in Raum und Zeit und tödlicher Langweile- und dann durchbricht man die Mauer im Angesicht des Todes… und wie gehts weiter?
interessant ist ob man vor dem Mauerfall überhaupt beim Potsdamer Platz in die S-Bahn reinkam… wenn ja war das der weg für ihn vom Studio nach Hause- und erstaunlich dass er nicht mit Fahrer und dickem Auto – sndern so allerweltsmäßig profan Bahn fuhr- was wir dem Glamorstar so gar nicht zugetraut hätten. Er singt eben doch als puppe- uns bleibt am Ende die Staffage/ das Bühnenbild und er geht lebendig ins Leben zurück.