Wahlkampfzeit, Songvereinnahmungszeit. Aktuell sind es die Toten Hosen, die sich beschweren. Ihr Hit Tage wie diese wird auf Wahlveranstaltungen sowohl der CDU als auch der SPD gespielt, und das finden Campino & Co. Natürlich überhaupt nicht gut. Ein Ärgernis, das die Hosen mit vielen anderen Pop- und Rockstars teilen. Denn schon seit Jahrzehnten nutzen Politiker und Parteien bekannte Songs für ihre Zwecke. Solche Songvereinnahmungen erfolgen nach mindestens sechs grundsätzlichen Mustern – und manchmal ohne Rücksicht auf Verluste:
1 Der Song wird vereinnahmt, weil er zufällig den Namen oder Spitznamen des Politikers oder der Politikerin enthält. Bestes Beispiel: Angie von den Rolling Stones. Im Jahr 2005 ließen die Marketingstrategen der deutschen CDU das bereits 1973 veröffentlichte Stück regelmäßig im Anschluss an die Wahlkampfauftritte von Angela Merkel spielen. Und das, obwohl die Lyrics vom traurigen Ende einer Liebesbeziehung, von Abschied und Depression erzählen. „Äjndschäh, Äj-hiiiiihhhnn-dschäh, when will those clouds all dis-äppiie-hie-hie-hie-ähhh?“ Eigentlich nicht das passende Stück Musik für eine aufstrebende Politikerin. Aber vielleicht gibt es ja nach dem Bundestagswahlsonntag endlich mal einen wirklichen Grund, das Lied in der CDU-Zentrale zu spielen…
Ähnlich wie bei Angie lag der Fall bei Barracuda, dem 1977er Rockklassiker der US-Band Heart. Er wurde doch 2008 tatsächlich von der erzkonservativen Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin zum Anheizen des Wahlvolks benutzt, weil sie einst im Schul-Basketballteam den Spitznamen „Sarah Barracuda“ trug. Auch hier hatten die Lyrics – eine Abhandlung über Niedertracht und Verrat – nicht nur keinen Bezug zur Kandidatin, sondern waren überdies auch noch reichlich kontraproduktiv. Was aber niemanden zu stören schien.
2 Der Song hat einen hübschen Titel, der sich prima als Motto benutzen lässt. So geschehen mit American Girl, einem Stück von Tom Petty aus dem Jahr 1977. Hillary Clinton soll den Song 2008 auf Wahlkampfveranstaltungen genutzt haben, offenbar ohne Einwände des Interpreten. Als aber die wie Sarah Palin nicht eben zimperliche Republikanerin Michele Bachmann das Stück 2011 zum Start ihrer Präsidentschaftskampagne spielte, untersagte ihr Tom Petty den weiteren Gebrauch des Liedes.
Wieso der Song überhaupt für politische Zwecke genutzt wurde, bleibt allerdings auch hier schleierhaft. Denn er erzählt von einer jungen Frau, die frustriert vom Leben, von der Liebe ist. Einige Fans behaupten sogar, die Lyrics seien inspiriert vom authentischen Fall einer Studentin, die Selbstmord beging. Auch im Falle von More Than A Feeling, einem Rockklassiker der US-Gruppe Boston von 1970, dürfte der suggestive Titel der Hauptgrund dafür gewesen sein, dass ihn der Republikaner Mike Huckabee 2008 bei seinen Wahlkampfveranstaltungen spielen ließ. Eigentlich verbinden die Lyrics die Motive einer verlorenen Liebe und eines alten, sehnsüchtigen Songs, der im Radio läuft. Kein Wunder, dass sich Boston gar bitterlich beschwerten.
3 Man positioniert sich oder provoziert, indem man einen bekannten Song als Lieblingssong zitiert. Das tat beispielsweise der 1976 zum US-Präsidenten gewählte Demokrat Jimmy Carter, als er 1974 Bob Dylans metaphorischen Song I Ain’t Gonna Work On Maggie’s Farm No More als wichtige Inspirationsquelle nannte. Zwar war Jimmy Carter ein gemäßigter, liberaler Politiker und vielleicht näher dran an Dylans Überzeugungen als die meisten anderen Politiker, doch zeigte sich der berühmte Songdichter am Ende „not amused“. Welcher um Unabhängigkeit bemühte Künstler will sich schon gern einkassieren lassen? Wirklich bizarr wird es, wenn Politiker Song oder Bands als Favoriten nennen, die eigentlich konträr zu ihrer Haltung stehen. So outete sich laut „Tages-Anzeiger“ vom 2. September dieses Jahres im letzten amerikanischen Wahlkampf Paul Ryan, der republikanische Vizepräsidentschaftskandidat, als Fan „der harten, linken Gruppe Rage Against the Machine“, was diese gar nicht gut fand.
Und „vor fünf Jahren bezeichnete der Eton-Absolvent David Cameron, damals noch Parteipräsident der Tories, Eton Rifles von The Jam als eines seiner Lieblingslieder. Sänger Paul Weller staunte unverblümt.“ – „Nicht selten gründen solche Übernahmen in mangelhaften Grundkenntnissen“, resümiert der „Tages-Anzeiger“: Eton Rifles ist eine Abrechnung mit jener englischen Klassenelite, die Leute wie David Cameron hervorbringt.“ Ich dagegen bin nicht sicher, ob sich nicht sogar eine gezielte Provokation hinter der Songvereinnahmung verbirgt.
4 Selektive Wahrnehmung – bis hin zur Umdeutung für die eigenen Zwecke. Das berühmteste Beispiel für dieses Muster ist die Vereinnahmung von Bruce Springsteens Song Born In The USA durch den US-Präsidenten Ronald Reagan 1984. Das im selben Jahr erschienene Stück hat etwas Hymnisch-Bombastisches, das ganz bewusst einen zynischen Widerspruch zum Text darstellt. Der erzählt nämlichen von einem sozial kalten Amerika, das seine jungen Männer erst in sinnlosen Kriegen zu seelischen Krüppeln macht und sie dann zu Hause, als Kriegsveteranen, im Stich lässt. Reagans Marketingstrategen, denen Springsteens immenser Erfolg bei der Jugend nicht verborgen geblieben war, pickten sich dann prompt nur den Titel, der auch den Refrain markiert, und das Hymnisch-Bombastische heraus und versuchten, den Singer/Songwriter als Zugpferd für die begehrten Jungwähler vor den eigenen patriotischen Karren zu spannen. Es versteht sich von selbst, dass auch hier der Künstler einen Riesenaufstand veranstaltete und sich diesen Songmissbrauch verbat.
5 Der Song hat einfach Drive – ist doch egal, wovon die da singen. Diese Haltung muss der Grund gewesen sein, warum Mitt Romney, republikanischer Gegenspieler Barack Obamas den treibenden Song Panic Switch der kalifornischen Band Silversun Pickups im Präsidentschaftswahlkampf einsetzte.
Dabei erzählen die Lyrics von Nervosität, von Depression, von Panikattacken. „Die merken ja ga nicht, was sie da tun“, kommentierte die Band, „und schießen sich stattdessen selbst ins Knie.“
6 Vereinnahmung eines textlich offenen Songs – womit wir wieder bei den Toten Hosen und Tage wie diese wären. Denn das Stück erzählt lediglich von Menschen, die sich treffen und an einem unbestimmten Ort, bei einem nicht näher beschriebenen Event, inmitten einer Menschenmenge ein rauschhaftes Erlebnis haben.
Ein Fußballspiel? Ein Konzert? Eine Party? Ein Kirchentag? Die Lyrics sind so ambivalent, dass man vieles in sie hineininterpretieren und sie eben auch für eine politische Veranstaltung, zum Beschwören eines Wahlsiegs oder einer politischen Zeitenwende, vereinnahmen kann.
„Tatsächlich können sich die Musikanten gegen die unerwünschte Vereinnahmung nicht wehren, weil sie sich wie praktisch alle GEMA-Mitglieder dem GEMA-Einheitsvertrag unterworfen haben“, schreibt der Autor Markus Kompa auf dem Portal Telepolis. „Damit begeben sich Urhebende ihrer Mitspracherechte, wer ihre Werke nutzen darf. Die GEMA ist verpflichtet, jedem zahlenden Interessenten die Nutzung zu gestatten. Eine Möglichkeit zur Differenzierung sieht die GEMA nicht vor.“
Nun hat sich ja – zum Beispiel mit Bruce Springsteen, der lautstark und erfolgreich gegen Reagan wetterte – gezeigt, dass vehementes Beschweren und Distanzieren politische Vereinnahmungen von Liedern durchaus stoppen können. Aber so sehr man die Künstler in ihrem „Not amused“-Sein auch versteht: gerade bei den Toten Hosen muss man noch einmal darauf hinweisen, dass ihr Song, zum Beispiel in Fußballstadion und in Festzelten, noch von ganz anderen fragwürdigen Klientelen gesungen wird und dass er tatsächlich inhaltlich derart vage ist, dass man alles Mögliche in ihn hineininterpretieren kann. Ein Song, der im Zeitalter der Massenmedien und vor dem Hintergrund der Globalisierung die Öffentlichkeit erreicht, entwickelt einfach ein nicht zu kontrollierendes Eigenleben – das sollten Rockkünstler mittlerweile begriffen haben. 1986 traten „die Hosen“ mutwillig mit dem „wahren Heino“ Norbert Hähnel auf und mokierten sich über Heinos verkniffene Versuche, die Parodie verbieten zu lassen. Schon von daher wäre im Falle von Tage wie diese ein weniger verärgerter, souveränerer Umgang angebracht, so etwas wie eine gelassen-freundliche Absage an das Treiben der Politiker – der milde lächelnde Hinweis, dass sie sich, siehe Silversun Pickups, mit ihren Vereinnahmungen in der Regel selbst ins Knie schießen.