33 Texte aus der Frankfurter Pop-Anthologie der FAZ sind jetzt als Buch erschienen. Titel: Drop It Like It’s Hot. Leseeindrücke
Das populärwissenschaftliche bis akademische Unter-die-Lupe-Nehmen von Songs erfreut sich großer Beliebtheit. Und gern erfolgt es in Serie. Das Spektrum reicht hier von der Hörfunk- und Fernsehinstitution Popsplits über Buchreihen wie The Story Behind … von Thomas Steinberg oder Berühmte Songzeilen und ihre Geschichte von Manfred Prescher/Günther Fischer bis hin zu großangelegten Anthologien im Internet. Das Onlineportal Deutsche Lieder. Bamberger Anthologie darf dabei als Nonplusultra für Songs aus dem deutschsprachigen Raum gelten: Unter der Regie von Martin Rehfeldt (Herausgeber) und Jan Hurta (Redaktion) erscheinen auf Deutsche Lieder seit Jahren ernsthafte Auseinandersetzungen mit gefeierten, aber auch mit umstrittenen deutschen Songs der unterschiedlichsten Genres – die Beiträge haben oftmals erhellenden Charakter. International und vor allem auf die popmusikalischen Genres ausgerichtet gibt sich dagegen die Frankfurter Pop-Anthologie der FAZ. Unter diesem Label – frei nach der 1974 von Marcel Reich-Ranicki begründeten Frankfurter (Literatur-)Anthologie – sind auf faz.net in einem Zeitraum von mehr als fünf Jahren an die 140 Beiträge erschienen, wobei der Ansatz weniger wissenschaftlich als spielerisch offen ist. Die Autorinnen und Autoren schreiben einfach über ihre Lieblingssongs – auf welche Aspekte sie dabei den Schwerpunkt legen, bleibt ganz ihnen überlassen. Auch der Bekanntheitsgrad eines Songs scheint keine große Rolle zu spielen: So findet selbst Obskures, längst Vergessenes oder nur einer Handvoll Nerds Bekanntes seinen Weg in die Sammlung.
Mit Drop It Like It’s Hot sind nun 33 Texte dieser Frankfurter Pop-Anthologie als Buch erschienen. Die Herausgeber des Bandes, die FAZ-Feuilleton-Redakteure Uwe Ebbinghaus und Jan Wiele, äußern sich nicht zu den Kriterien ihrer Textauswahl – diese scheint aber einen guten Querschnitt durch das bisher aufgelaufene Internetangebot zu bieten. So werden neben Welthits wie Bobby Brown (Frank Zappa) und Hallelujah (Leonard Cohen) Artrock-Perlen wie The Musical Box (Genesis), experimentelle Filmmusiken wie Container (Fiona Apple), französische Sixties-Nischenhits der Marke Les Élucubrations (Antoine) und verstörende Schlager wie Smog in Frankfurt (Michael Holm) besprochen – zu den Autorinnen und Autoren gehören Kolleginnen und Kollegen sowie der eine oder andere Gaststar, darunter Annette Humpe, einst Songwriterin und Sängerin der wunderbaren NDW-Band Ideal.
Der „Kessel Buntes“-Ansatz der Frankfurter Pop-Anthologie ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits sorgt er für ein Leseerlebnis voller Überraschungen, da jeder Text anders an seinen Gegenstand herangeht. Er fördert unerwartete Erkenntnisse zutage und macht Lust, selbst abseitige Songs neu zu entdecken. Auf der anderen Seite muss man sich auf teils sehr subjektive Einschätzungen und wilde Spekulationen einlassen, gerade bei weniger bekannten Songs und Acts fühlt man sich ohne behutsame Moderation in medias res geworfen, mitunter bleibt man unzufrieden, im schlechtesten Fall ratlos zurück. So kämpft sich Rose-Maria Gropp zwar tapfer durch die verschiedenen Fassungen von Hallelujah, nennt unzählige biblische Bezüge und literarische Assoziationen, suggeriert sprachlich geschliffen ein tieferes Verständnis, lässt aber letztlich einen roten Faden ihrer Argumentation geschweige denn ein klares Statement zur Bedeutung, zum Clou oder eben zur Uninterpretierbarkeit des Cohen-Klassikers vermissen. Ähnlich anstrengend sind die Einlassungen von Kunstgeschichtler Stefan Trinks zum Nick-Cave-Song The Mercy Seat, da lediglich der Songinhalt und vor allem das dazugehörige Musikvideo minuziös nacherzählt werden, ohne dass Zitate aus den Original-Lyrics Halt geben. Das liest sich zwar leidenschaftlich-blumig, ist aber zu sehr Fanperspektive und zieht letztlich abstrakt, wie ein surrealer Clip am inneren Auge des wissbegierigen Popfans vorbei. Mercy Seat sei ein „Lied der Urängste, von (Gott-)Verlassenheit, Verzweiflung, Auflehnung, Resthoffnung auf Erlösung“, schreibt Trinks: „An Cave ist tatsächlich, wie oft geschrieben wurde, ein Priester verloren gegangen.“ Gibt’s ja nicht – aber hätte man das nicht auch in weniger als achteinhalb Buchseiten auf den Punkt bringen können? Wenn Uwe Ebbinghaus bei der Betrachtung des Songs Drop It Like It’s Hot (Snoop Dog feat. Pharell) aus augenzwinkernd unbedarfter Elternperspektive die „oft eindeutig nur gespielte Fluch- und Drohkulisse“ der „meist schwarzen Rapper“ betont und die lässig behauptete Ironieerkennungskompetenz vieler Jugendlicher feiert, läuft er zumindest Gefahr, die wirklich unappetitlichen Aspekte des Gangsta-Rap zu verharmlosen. Und wenn Hip-Autor Joachim Bessing (Tristesse Royale) im Text zu Michael Holm einen exklusiven Szenetalk einschließlich Namedroppings und nerviger Schwafel- und Schachtelsätze zelebriert, zieht’s einem schon mal die Schuhe aus. Kostprobe: „Thomas Meinecke, der damals leider nicht dabei war, obwohl er ja Hamburger ist, wohingegen ihn beinahe alle für einen Bayern halten aufgrund seines lebensfrohen Leibesumfangs, hat ja angesichts der Dichtkunst Albert Ostermeiers ganz richtig angemerkt, dass solche Poesie vor allem in der Kunst besteht, am rechten Ort in der Zeile die Return-Taste zu drücken. In dieser Hinsicht ist der Text von ‚Smog in Frankfurt’ Avantgarde.“ Selige SPEX-Zeiten lassen grüßen …
Gewagt, aber durchaus spannend lesen sich Beiträge, die ihrem Gegenstand mit Überidentifikation oder aber mit einer lässigen Ignoranz begegnen. So lässt Jan Wiele in seinen Ausführungen zu Diamonds and Rust von Joan Baez literaturwissenschaftliche Grundannahmen wie „Das lyrische Ich ist nicht gleichzusetzen mit dem Autor oder der Autorin“ ganz bewusst außer Acht und deutet den Song völlig schmerzfrei als autobiografisch motivierte Abrechnung der Folk-Ikone Joan Baez mit ihrem arschigen Ex-Lover Bob Dylan. Zwischen aufschlussreichen Informationen zur Musikszene der Siebzigerjahre zeigt sich Wiele dabei derart empathisch gegenüber der Songwriterin, dass man meinen könnte, er selbst sei auch schon mal so arschig behandelt worden oder gar ein bisschen in Joan Baez verliebt. FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube bringt es fertig, fast einen ganzen Essay lang allgemein über das Wesen von Lyrik und Lyrics, das lyrische Ich und das lyrische Du zu philosophieren, sein eigentliches Thema aber, den Song Wrecking Ball von Miley Cyrus, nur in den allerletzten Zeilen kurz zu streifen – ein kleines Husarenstück, vielleicht. Und Annette Humpe, die eigentlich etwas über den Rolling-Stones-Klassiker Sympathy for the Devil schreiben soll, bekennt gleich am Anfang, dass sie eigentlich die Beatles für die Größten hielt und hält. Die Stones hätten durchaus etwas Faszinierendes und sogar Angsteinflößendes gehabt, gibt sie zu, „Die wollten Sex, das war mir zu viel“, aber auch Waiting for the Man von The Velvet Underground sei kein schlechter Song gewesen, was fast unmittelbar zu Blondie, Devo, Talking Heads oder Flying Lizards und schließlich zur Gründung von Humpes eigener Band Ideal führt. Huch? Der Text wirkt naiv und fast schon fahrlässig am Thema vorbei – gleichzeitig erzählt er, oszillierend zwischen Scharlatanerie und Genialität, wie die Autorin sich selbst fand und zur Künstlerin wurde. Hm, ja … so kann man’s auch machen. Ein weiterer origineller Beitrag kommt von Jens Buchholz: Rund um den Alphaville-Hit Forever Young schwadroniert er launig über popspezifisches „Smurfing“ – eine Fantasiesprache, die sich aus dem immer wieder scheiternden Entschlüsseln schwer verständlicher Songlyrics ergibt. Sein erheiterndes, die übrigen Buchbeiträge wohlwollend konterkarierendes Fazit: „Nicht Englisch ist die Muttersprache des Pop, sondern Smurfing.“
Und natürlich gibt es etliche Texte, die Langweilern wie dem Rezensenten genau das bieten, was sie von Anfang an erwartet haben: ordentliche Leserführung, relevante Hintergrundinfos und eine gut begründete Einschätzung zur Bedeutung des besprochenen Songs. So erklärt Oliver Jungen, Grammatikspezialist und Koautor eines Buchs über das Scheitern, eindrucksvoll die Wirkmacht des Songs Meat Is Murder und der Band, die ihn produziert hat, des kämpferischen britischen Außenseiter-Quartetts The Smiths. Elene Witzeck entschlüsselt einfühlsam die Naturmetaphorik im Bossa-Nova-Klassiker Aguas de Marco von Elis Regina und Tom Jobim. Die Lektorin und Literaturkritikerin Miryam Schellbach wiederum bringt uns das Werk der auch in der abendländischen Independent-Film- und -Musikszene geschätzten libanesischen Songwriterin Yasmine Hamdan näher, und Christina Dongowski macht verständlich, wie Kate Bush sich in ihrem ersten Hit Wuthering Heights einerseits auf Emily Brontës gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1847 bezieht und andererseits den Grundstein für eine ganz eigene, einzigartige künstlerische Vision legt. Talk Talk, Adriano Celentano, Element of Crime, Peter Fox oder die Hothouse Flowers sind weitere Stars, die mit je einem ihrer Songs ins Schaufenster gestellt werden.
Holla … Auf den ersten Blick dachte ich, Drop It Like It’s Hot sei ein leichtgängiger Band zum Wegschmökern, auch als feines Geschenk für Popfans im Freundeskreis bestens geeignet. Und ja: Das Buch lässt sich prima verschenken. Aber das mit dem Wegschmökern war wohl doch eher „wishful thinking“. Für eine entspannende Strandlektüre hat das Textmaterial letztlich zu viele Ecken und Kanten, auch ungeahnte Tiefen, in denen es sich zurechtzufinden gilt. Weshalb ich angefangen habe, Drop It Like It’s Hot gleich ein zweites Mal zu lesen …
Uwe Ebbinghaus & Jan Wiele (Hg.), Drop It Like It’s Hot. 33 (fast) perfekte Popsongs. Reclam 2022, 15 Euro