Ein paar Gedanken zur Popmusik und zu meinem neuen Buch
„Playlist zum Glück“
Es fällt nicht leicht, mit der Zeit zu gehen. Vor allem wenn man weiß, wie es vor einem halben Jahrhundert war. Damals, in den 1970ern, hatte Popmusik noch einen anderen Status, sie war anders präsent, gleichzeitig greifbarer und halbwegs überschaubar. Als immer noch neuer, spektakulärer, teils skandalöser Sound einer aufbegehrenden Generation drängte sie in die Öffentlichkeit und in die führenden Medien – wer damals up to date sein wollte, brauchte nur ein paar wenige einschlägige Radio- und Fernsehsendungen kennen, zwei, drei relevante Zeitschriften lesen und ab und zu den DJ in der Disco des Vertrauens befragen. In den Charts tummelten sich aufmüpfige Rock-Acts neben Schlagerstars, popmusikalische Provokationen zielten auf Bewusstseinserweiterung und progressive gesellschaftliche Veränderung, die Vinylschallplatte und das Tonband waren die magischen Medien der Stunde. Ich erinnere mich noch daran, wie man als Kunde in größeren Plattenläden ein paar angesagte neue Scheiben aus den Fächern zog, damit zur Theke stapfte und das Personal bat, sie aufzulegen. An einem von mehreren Kopfhörerplätzen durfte man dann reinhören, um anschließend eine gut begründete Kaufentscheidung zu treffen – wenn man sich nicht schon vorher nach reichlich Musikgenuss mit leicht schlechtem Gewissen davongestohlen hatte.
Ein endloser, manchmal überfordernder Strom
Es folgten technische Veränderungen und die Aufsplitterung der Popmusik in immer mehr Genres und Subgenres. Plötzlich wurde es digital und unübersichtlich. Die Audio-CD und neue mediale Formate wie Fanzines und Spezialsendungen erlebten eine kurze Blütezeit, dann riss das Internet endgültig alles mit sich. Heute hat sich die Art und Weise, wie Musik produziert, verbreitet, reflektiert und konsumiert wird, grundlegend verändert. Klar wird auch 2025 noch Radio gehört, aber mindestens genauso häufig wird Musik gestreamt, verpackt in Abomodelle und in Playlists für die unterschiedlichsten Genres, Anlässe und Stimmungen. Was gespielt wird, ist immer häufiger nicht mehr von Menschen kuratiert, sondern von undurchschaubaren Algorithmen gesteuert – und Musikschaffende, die nicht zu den Superstars zählen, was auf die überwältigende Mehrheit der Acts zutrifft, haben deutlich weniger Umsatzchancen als in früheren Zeiten. Musik ist ein endloser, manchmal überfordernder Strom geworden. Die Inhalte und die Stars werden immer weniger greifbar – und das am Ende auch im wörtlichen Sinne: Man muss nur an die schwindende Bedeutung von funkelnden Tonträgern mit kunstvoll gestalteten Covern samt grafischen Gimmicks und Abdruck der Lyrics denken.
Auch was das kontroverse Potenzial von Popmusik betrifft, hat sich viel verändert. Noch heute provozieren Songs und sorgen für Zündstoff, keine Frage – doch in vielen Provokationen der vergangenen zehn, zwanzig Jahre spiegelt sich ein reaktionärer Backlash. Wer zuletzt anecken und schocken wollte, tat das nicht mehr mit Sozialkritik, Protest und einer besonders liberalen Haltung, sondern mit ironiefreiem Gangsta-Rap samt misogynen, homophoben, antisemitischen Parolen; oder kokettierte herausfordernd mit rechtspopulistischen Positionen. Pop dieses Kalibers besetzt regelmäßig die Spitzenplätze der Charts, und die entfernen sich immer weiter von den Programmen der großen Radio- und Fernsehsender. Wer beispielsweise auf der Autobahn durch Deutschland fährt und sich durch die von Bundesland zu Bundesland wechselnden 1er-, 2er-, 3er-, Info-, Service- und Jugend-Wellen zappt, hört die immer gleichen massenkompatiblen Titel, jeweils zugeschnitten auf ein bestimmtes 80er-, 90er-, Schlager-, Klassik- oder Youngster-Publikum. Das soll nicht falsch verstanden werden: Gegen Kurzweil und leichte Unterhaltung ist nichts einzuwenden, zudem handelt es sich meist um gute und gut gemachte Programme. Doch sie sind omnipräsent und leben von gängigen oder gut abgehangenen Titeln, die auch gern mal zu Tode genudelt werden. Die wirklich aufregende, auch kritische und innovative, nicht alltägliche neue Popmusik dagegen wird seit der Jahrtausendwende kontinuierlich aus der Öffentlichkeit verdrängt: auf immer weniger Sendeplätze zusammengepfercht, zu immer späterer Stunde ausgestrahlt und mehr und mehr ins Privat- beziehungsweise Indieradio verlagert oder ganz in die endlosen Weiten des Internets abgeschoben. Verschärft wird diese Entwicklung durch antiliberale Meinungsmache und durch Sparzwänge, denen viele beliebte Sendungen, Teile von Redaktionen und manchmal ganze Wellen zum Opfer fallen. Ein schlimmer Trend, der ganz nebenbei auch die Kultur- und Kulturförderungsinstitutionen erfasst hat.
Spannende Musik, neue Vermittlungsformate
Mit anderen, allgemeineren Worten: Früher kam die elektrisierende Musik fast von allein zum Fan – heute muss der Fan die elektrisierende Musik umständlich suchen: über Bandportale und Tipps in den sozialen Medien, über das Eintauchen in die unüberblickbare Welt der Internetradios, das Studium teurer Spezialmagazine, spontanes Shazamen in den unmöglichsten Situationen oder über Online-Shopfunktionen wie „Ähnliche Titel/Interpreten“. Das Gute ist: Es gibt sie, diese elektrisierende Popmusik, immer wieder und in immer neuen Ausprägungen. Und: Es wachsen neue Vermittlungsformate nach. Diese werden meist realisiert von engagierten Music Lovers, die ehrenamtlich, mit kleinem Budget oder unterstützt durch Werbeeinnahmen und Spenden ans Werk gehen. Die Rede ist von genreübergreifenden Musikpodcasts wie „Mein Lieblingssong“ (Stephan Falk und Andreas Ryll, Köln/Mönchengladbach), „Kulturmenü“ (Angelika Ortner, Wien) oder „Life in Mixtapes“ (Christian Stangl und Lukas Filipek, Wien), aber auch von E-Mail-Magazinen wie „Zwischen zwei und vier“ (Melanie Gollin und Rosalie Ernst, Berlin) oder dem E-Mail-Newsletter „Ein Song Reicht“.
Gerade „Ein Song Reicht“, benannt nach einem Song der gewitzten Chemnitzer Rockband Kraftklub, beschreitet einen ungewöhnlichen Weg. Jeden Tag versenden der Leipziger Musikmanager Fabian Schuetze und der Musikjournalist Martin Hommel einen Newsletter, in dem eine mehr oder weniger bekannte Persönlichkeit einen einzigen Song empfiehlt – mit Link zum Video und einer Begründung der Wahl. „Da wir die Szene im eigenen Land stärken wollen“, so die Macher, „stellen wir nur eine Bedingung: Die vorgestellten Songs müssen von Musiker*innen stammen, die in Deutschland leben. Nationalität, Herkunft, Art der Musik, Erscheinungsdatum und Sprache, in der gesungen wird, sowie Bekanntheit der Künstler*innen sind dabei nebensächlich.“ Vor dem Hintergrund des Schwunds an engagierten Musikmagazinen und verfügbaren Slots im Radio, aber auch mit Blick auf den Streaming-Wahn, an dem vor allem die Portalbetreiber verdienen, möchten Schuetze und Hommel „durch die Fokussierung auf nur einen Song pro Tag und die Wahl des Kanals – der Maileingang als deutlich ruhigeres und wertigeres Umfeld – eines erreichen: Tolle Musik mit einem interessierten Publikum zusammenbringen und dem einen vorgestellten Song echte und relevante Aufmerksamkeit und Reichweite bringen. Wir möchten hochwertige Musik aus Deutschland ins Scheinwerferlicht stellen und ein großes Schaufenster bieten.“
Der Sound des Unbewussten
„Ein Song reicht“ ging im März 2024 an den Start und bedankt sich auf der Website bei aktuell über 15.000 Subscribern. Der Einstieg ist für Neulinge kinderleicht – zum einen genügt ein Klick, um sich für den Newsletter anzumelden, zum anderen lässt sich im Archiv schnell nachverfolgen, wen und was man bisher verpasst hat. Das Projekt steckt voller Überraschungen, denn schon die Empfehlenden kann man nur in wenigen Fällen als echte Prominente bezeichnen. Sie stammen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen – aus Kunst, Musik, Film oder Theater, aus Kulturbusiness und Politik, Wirtschaft, Sport, aus den Medien oder der Kreativszene – und bilden Diversität in all ihren Facetten ab. Sie sind in die unterschiedlichsten Tätigkeiten und Projekte involviert, zu denen man als Abonnent gern mal weiterrecherchiert. Doch auch die empfohlenen Acts und Songs sind alles andere als Mainstream. Vom kreativen jungen Erwachsenen, der gerade seinen zweiten Home-Track produziert hat, bis zur routinierten Bandleaderin ist alles dabei. Der Queerness-Faktor ist hoch, und die vielfach nur in In-Kreisen bekannten Stücke stammen aus den unterschiedlichsten Genres – das Spektrum reicht von Indierock, Rap und Chanson bis Ambient, Türk Pop, Electronica und House.
Angesichts dieser enormen Vielfalt wird man als Subscriber nur alle paar Tage oder Wochen eine Songentdeckung machen, die den eigenen Geschmack voll und ganz trifft. Doch es geht ja auch darum, zu entdecken, was sich so alles tummelt (und mal getummelt hat) in der deutschen Musikszene – und in dieser Hinsicht leistet „Ein Song Reicht“ ganze Arbeit. Viele Songs befassen sich mit sozialen Themen, erzählen von Ausgrenzung und Empowerment, von Stress und Orientierungslosigkeit, von Ängsten und psychischen Problemen. „In einem Gespräch sagte neulich jemand zu mir, in der Popmusik gebe es im Moment einen Overkill an Songs über Mental Health“, schreibt Gloria Grünwald, Moderatorin bei egoFM und Macherin eines eigenen Musikprojekts namens Greenwald, zu ihrer Empfehlung für „Ein Song Reicht“. „Das denke ich nicht. Wie kann ein Thema erschöpft sein, wenn wir noch immer nicht an dem Punkt sind, dass sich alle ohne Angst vor Verurteilung darüber äußern können? Wir arbeiten dran, oder? ‚Stabil‘ von AB Syndrom ist ein weiterer wichtiger Song in diesem Prozess, der die Message transportiert: Du bist nicht allein. Und um Empathie wirbt. Denn viele Struggles sind von außen nicht sichtbar.“ Und weiter: „AB Syndrom fliegen trotz Hits wie ‚Flaggschiff‘ oder ‚Bora Bora‘, mehreren spitzenmäßigen Alben und Songs mit Mine noch immer unter dem Mainstream Radar – wird Zeit, dass sich das ändert!“
So macht „Ein Song reicht“ nicht nur einen facettenreichen musikalischen Underground sicht- und hörbar, der unter der flauschigen Mainstream-Pop-Oberfläche floriert, sondern, wenn man so will, auch das Verdrängte, das im Unterbewussten unserer Gesellschaft gärt. Das Leiden an und das Ringen mit gesellschaftlichen und Geschlechter-Normen, die Auseinandersetzung mit Leistungsdruck, sozialer Ungerechtigkeit und Perspektivlosigkeit, mit dysfunktionalen familiären Strukturen und komplizierten Liebesbeziehungen ziehen sich trotz zahlreicher Motivations- und Gute-Laune-Tracks wie ein roter Faden durch die „Ein Song Reicht“-Empfehlungen.
Der Therapie-Faktor
Natürlich hatte Popmusik schon immer auch mit der Verarbeitung von persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen zu tun, mit dem Kampf gegen Traumata, mit Empowerment. Doch mindestens genauso wichtig, wenn nicht wichtiger waren über Jahrzehnte hinweg das Abenteuer, der Ausbruch, das Sprengen von Grenzen, politische Veränderung, die lustvolle Selbstinszenierung, die ganz große Geste, das sinnliche Erleben, der größtmögliche Spaß. Heute scheint der selbsttherapeutische Aspekt des Musikmachens an Bedeutung gewonnen zu haben. Gleichzeitig rückt der therapeutische Effekt von Musik und speziell von Popmusik auch für uns, die Fans, stärker in den Fokus. Dass Songs uns begleiten und pushen, dass sie Trost spenden und uns vermitteln, mit unseren Sorgen und Nöten nicht allein zu sein, war schon immer so und wird durch Millionen von Kommentaren in Fanforen und unter Youtube-Videos bestätigt. Doch längst beschwören auch Buchautorinnen und -autoren die heilsame Wirkung von Popmusik auf das Publikum, werden Songs zum Thema für Mental-Health-Experten und Life-Coaches.
Schon 2019 veröffentlichte der Psychologieprofessor Stefan Kölsch ein Buch mit dem Titel „Good Vibrations – die heilende Kraft der Musik“, für das zweite Halbjahr 2025 sind gleich mehrere Bücher angekündigt, die erklären, warum Musik, und damit auch Popmusik, uns glücklicher, gesünder, intelligenter und friedlicher macht, wie wir durch Musik schlau werden und, Achtung, wie eine kraftvolle Verbindung von Achtsamkeit und Heavy Metal aussehen kann. Schon ganz aktuell auf dem Markt ist mein neues Buch „Playlist zum Glück – 99 ½ Songs für ein erfülltes Leben“. Es erschien Ende März wie schon der Vorgänger „Mein Herz hat Sonnenbrand“ beim renommierten Reclam-Verlag, der in den letzten Jahren eine beeindruckende Sparte an spannenden Musiksachbüchern aufgebaut hat – auch das ein Impuls in Sachen „Neue Musikvermittlungsformate“, wenn man so will.
Playlist zum Glück

Die „Playlist zum Glück“ ist eine nicht ganz alltägliche Kombination aus Musiksachbuch und Lebensratgeber. Es geht nicht einfach nur um tolle Songs, die berühren und uns ein gutes Gefühl geben – dazu könnte man tatsächlich ganze Regalwände an Büchern schreiben. Nein, die Songs, die vorgestellt werden, zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie in ihren Lyrics konkrete Tipps zur Lebensführung formulieren oder dass sich solche Tipps zumindest deutlich aus den Texten heraushören lassen. „Das Universum und wir“, „Haltungen, die den Alltag leichter machen“, „Liebe und Partnerschaft“, „Resilienz“, „Veränderungen managen“, „Getting Started“, so lauten die Kapitelüberschriften, und sie deuten schon die Motivation hinter dem Buch an. Unsere globalisierte Welt stellt uns fast täglich vor neue Herausforderungen, immer wieder müssen wir uns neu einstellen, uns neu erfinden, hinzu kommen internationale Krisen wie Pandemien und Kriege, die uns Sorgen bereiten. Wenn Songs uns positiv begleiten, uns trösten und motivieren können, dann wäre doch eine Playlist aus Stücken von Interesse, die uns nicht nur emotional, musikalisch, sondern auch textlich Orientierung in diesen turbulenten Zeiten bieten. Die 99 ½ Songs samt Lebensführungstipps werden ergänzt durch zahlreiche Empfehlungen zum Weiterhören, es gibt also einiges zu entdecken, auch an inspirierenden Gedanken und potenziellen neuen Lieblingssongs.
Über den Zustand der Popmusik und die aktuellen Zeitströmungen habe ich mir beim Schreiben des Buchs keine Gedanken gemacht. Aber wenn man das Playlist-Format betrachtet, den Fokus auf die heilsame Wirkung von Songs, die Tatsache, dass auch der eine oder andere Act aus dem „Ein Song Reicht“-Newsletter den Weg in mein Manuskript gefunden hat, sowie den Umstand, dass ich in den genannten Musik-Podcasts schon zu Gast war oder zu Gast sein werde, dann hat meine „Playlist zum Glück“ wohl den Finger am Puls der Zeit.
Mehr über „Playlist zum Glück“ auf meiner neuen Autoren-Website und bei Reclam