Ich bleibe dabei: Der Eurovision Song Contest ist eine Veranstaltung aus einem Paralleluniversum. Das fängt an beim immergleichen artifiziellen Musikmix aus Boller-Dancefloor, bombastischem Schnulzenpathos und Folkloreelementen, geht weiter über die bizarren modischen und choreografischen Geschmacksverirrungen bei Künstlern, Jurymitgliedern und Moderatorenteams und hört noch lange nicht auf bei den mal leicht, mal schwer zu durchschauenden Dynamiken der Punktevergabe. Immerhin springt ab und an ein wirkungsvolles Statements für Toleranz, für Frieden und für Völkerverständigung heraus, weshalb ich mich nicht groß beschweren will.
Dass der deutsche Beitrag 0 Punkte erreichte, liegt meines Erachtens nur daran, dass er viel zu bodenständig aus unserer realen Welt in das ESC-Paralleluniversum hinübergroovte – dass er schlichtweg nicht in diese künstliche Welt mit ihren ganz eigenen Zuckerguss- und Wir-haben-uns-alle-lieb-Regeln passte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der eigentlich vorgesehene Problembär Andreas Kümmert gesungen hätte – dem hätte man womöglich noch 2 x 12 Minuspunkte zusätzlich aufgebrummt.
Wie schön, sich einfach wieder Künstlern zuzuwenden, die Musik machen, weil sie etwas ausdrücken möchten – und nicht um bei einem Wettbewerb möglichst gut auszusehen. Es müssen auch gar keine internationalen Topacts sein. Hin und wieder erreichen mich Songtipps aus der lokalen Szene oder aus anderen deutschen Regionen, die sich durchaus hören lassen können. Zum Beispiel von Wooden Peak, einem Leipziger Duo, das jetzt nach mehreren feinen EPs in etwas größerer Besetzung produziert. Introvertiert klingen sie und ein wenig kammermusikalisch – ihre langsam dahingroovenden Songs mit eindringlichen Vocals entwickeln einen schlafwandlerischen Sog. Im Video zu MS Goodman von der neuen EP Polygon sind seltsame Menschen in einem altehrwürdigen Amtszimmer in seltsame Interaktionen verstrickt – was genau sie da machen, bleibt unklar. Das Unwirkliche dieser Szenen wird visuell unterstrichen durch behutsame Loop- und Scratch-Effekte – die Bildsequenzen laufen kaum merklich immer wieder vor und zurück. Musik und Videos von Wooden Peak finde ich wirklich beeindruckend.
Videoscratching bestimmt auch den smarten kleinen Film, den Der Axiomator aus dem Raum Frankfurt für seinen mindestens ebenso smarten Track Hirn produziert hat. Passend zum Titel wirkt die visuelle Umsetzung hier herrlich debil. Hinter dem Axiomator steckt ein positiv Verrückter mit einem Faible für hintergründig verspielte Texte. „Willst du mal nen Tipp / Dann tipp dir an die Stirn / Denn da wird etwas vermisst / Ja, man nennt es Hirn“, rappt er flüsternd vor der Frankfurter Skyline über einem geheimnisvollen elektonischen Groove, garniert mit allerhand Soundeffekten. Das hat etwas von einem witzigen Novelty-Song und eignet sich nicht nur zum persönlichen Vergnügen, sondern auch als geschmackvoll dezenter Hinweis an Zeitgenossen, die einem gehörig auf den Senkel gehen – von mir aus auch als Kommentar zum völlig irrationalen ESC-Gedöns.
Hirn ist zu finden auf der programmatisch betitelten EP Erste Störsignale, die mit Hacky der Hacker samt Remix-Version in ähnliche musikalische Kerben haut. Der Kraftwerk-Einfluss ist auch spürbar auf dem Track Entlang der Straße, einem ansatzweise dramatischen Elektronik-Instrumental, das mich auf lange Sicht am stärksten beeindruckt. Wooden Peak und Der Axiomator werden vermutlich nie an einem ESC-Finale teilnehmen, geschweige denn an einem nationalen Vorentscheid. Und das ist auch gut so.