Weißt du, es ist Zeit, dich mal richtig gehen zu lassen. Warum lassen wir’s nicht einfach raus? Sag mir, worauf du wartest. Denn ich, ich will leben, bevor ich sterbe. Abstürzen und brennen und den Verstand verlieren. Wir können die Welt in Flammen setzen. Heut Nacht können wir glorreich sein. Wir sind jung im Herzen, und wir sind frei. Die Welt gehört uns, ich kann die Musik in mir fühlen. Glorreich, ich habe eine Liebe gefunden, die Augen nicht sehen können, bin außer mir, oh oh oh… Ich glaube, das kleine Kind in mir kann meine Bestimmung offenbaren, und eines Tages werde ich mich befreien. Die Zeit ist gekommen, wir bewegen uns mit Lichtgeschwindigkeit. Ich werde dich auf der anderen Seite treffen – jedes Mal, wenn ich die Augen schließe.
So lautet frei übersetzt der Text des deutschen Songbeitrags zum Eurovision Song Contest, Glorious von Cascada. Es ist ein Song über Lethargie, Schüchtern- und Verklemmtheit, oder? Denn befreit man die Lyrics mal von all den Klischees über Feuer, Freiheit, kindliche Unbefangenheit und Kontrollverlust, die 95 Prozent ihres Gehalts ausmachen, dann sorgen 3 Zeilen für Irritation: „And one day I’ll be breaking free“, „I’ll meet you on the other side / Every time I close my eyes.“ Ja, wir KÖNNEN mal richtig die Sau rauslassen, wir KÖNNEN glorreich sein. Aber wir WARTEN, wir tun es nicht wirklich. EINES TAGES – also nicht jetzt – werde ich mich befreien. Ich werde dich auf der anderen Seite treffen, jedes Mal, wenn ich die Augen schliesse. Die wortreich beschriebene Befreiung, die Ekstase wird auf den Sanktnimmerleinstag verschoben, sie findet lediglich in der Fantasie statt…
Ich weiß, meiner Deutung einer belanglosen Dancefloor-Nummer, die wahrscheinlich einfach nur ein bisschen jugendlichen Ausgehspaß vermitteln will, wohnt ein gewisses Maß an boshafter Unterstellung inne. Aber in eben diesem Sinne ist Glorious von Cascada für mich ungewollt die Hymne des jüngeren ESC-Historie. Denn nirgendwo sonst geht es so offensichtlich darum, letztlich hohle, wertlose „Glorreich“-Punkte fürs eigene Land zu erringen – hohl auch deswegen, weil viele der verantwortlich zeichnenden Songwriter, die bei diesem Wettbewerb eigentlich im Zentrum stehen sollten, gar nicht aus dem Land stammen, für das sie den Beitrag geschrieben haben. Und nirgendwo wird so viel versprochen, aber nicht gehalten, so viel Glamour, so viel Freizügigkeit und Ekstase suggeriert, aber letztlich vertagt beziehungsweise familientauglich im Zaum gehalten.
Das Gezähmte der Veranstaltung offenbart sich schon in den Teilnahmebedingungen, die unter anderem besagen, dass die Songbeiträge keine politischen Botschaften enthalten dürfen. Das engt die „Relevanz“ dieses Wettbewerbs von vornherein deutlich ein und dürfte zu einem gewissen Maß an Selbstzensur bei vielen Songwritern führen, nach dem Motto: Bevor diese Textzeile falsch verstanden und mein Beitrag abgelehnt wird, schmeiß ich sie lieber raus. Liebeslieder, „Balladen“, Euphorie-Bretter und sogenannte „Novelty-Songs“, die um irgendeinen textlichen Gag oder musikalischen Gimmick kreisen, sind denn auch die beliebtesten Genres im Wettbewerb. Das Gezähmte zeigt sich weiter in der Beschränkung der Songs auf 3 Minuten Länge, was regelmäßig zu „Beschneidungen“ führt, sowie in den endlosen Vorentscheiden und Bewertungsmarathons: Sie lassen erwachsene Künstler wie Schuljungs und -mädels aussehen und sorgen dafür, dass das Publikum jedes Jahr dieselben nach vermeintlichen Erfolgsrezepten zusammenkonfektionierten Songs zu hören bekommt. Und es endet bei den teils unfassbar peinlichen Kostümen und Choreographien, die noch immer wie in einer Zeitschleife gefangen wirken, mit 70er-Jahre-Fernsehballett-Ästhetik und Eighties-Styling-Mutationen. Ein paar Paradiesvögel sind auch jedes Jahr dabei – sie wirken dann erst recht wie die gruseligen, seltenen und kuriosen Objekte, die Fürsten einst in ihren „Wunderkammern“ sammelten und zur Schau stellten. Entfesselung, Sinnlichkeit, Sex und Andersartigkeit lösen sich in bizarren Verkleidungen, kitschigen Trockeneisnebeln und merkwürdigen Verrenkungen auf, in den hysterischen Tränen der geschlauchten Sieger und im Frust der Letztplatzierten, in kühlen Länderplatzierungsstatistiken.
Das Wettstreiten liegt im Natur des Menschen, und gegen Song-Contests an sich ist nichts einzuwenden – im Grunde haben Hip-Hopper einst ihre Rivalitäten auf der Straße in diese friedliche Form der Auseinandersetzung kanalisiert. Aber ob man Kreativität derart einzwängen und zweckentfremden sollte wie beim ESC? Ich bin mir nicht sicher. Lustigerweise steht „ESC“ auf der Computertastatur für „Escape“, für „Ausstieg“. Aber das muss keine Handlungsaufforderung für den Eurovision Song Contest sein. Immerhin leisten sich die Final-Shows immer wieder spannende Ausreißer, als Ausnahmen, die die Regel bestätigen – in diesem Jahr etwa die schon betagtere Roma-Sängerin Esma Redzepova, die für Mazedonien antritt. Auch sind die Shows in den letzten Jahren so flott und humorvoll gemacht, dass man sie sich gut mal anschauen kann. Und der Cascada-Song, der einfach nur ein Genrestück und mitnichten ein Plagiat des Vorjahrssiegers Euphoria ist, erweist sich bei mehrmaligem Hören als harmonisch gar nicht mal so unfein collagiert. Weshalb es mich nicht wundern würde, wenn dieser hierzulande so gescholtene ESC-Prototyp am Ende doch auf den vorderen Plätzen landet.