„My name is Luka…“, „And my name is Bobby Brown…“, „I love you…“ – in der Regel nehmen wir nicht für bare Münze, was uns die vielen Ichs im Songuniversum erzählen. Es sind fiktive Ichs, mal mehr, mal weniger nah an den Autoren, und sie entwickeln ihre ganz eigenen Geschichten und Gedanken. Der Song öffnet ein Fenster in eine abgeschlossene Welt, er ist wie eine Glaskugel, in die wir hineinschauen – wie eine Wundertüte, deren Inhalt sich über uns ergießt. Gelegentlich aber passiert etwas anderes: Plötzlich rückt der Song selbst in den Fokus, bevorzugt mit den Worten „this song“ – „dieser Song hier“. Und dann wird es spannend. Denn dann pocht der Song an seine Grenzen, versucht er spielerisch, sie zu überwinden. Das in den Lyrics Geschilderte rückt viel näher an den Interpreten heran. Der Text, die Musik scheinen nicht mehr eine eigenständige Fiktion hervorzurufen, sondern öffnen sich zur realen Welt, zumindest zum Show-Ich hin. Sie wirken plötzlich wie eine direkte Botschaft des Interpreten an ein bestimmtes Gegenüber. Dieses Gegenüber, dieses Du, wird aber nie konkret benannt. Und so ergibt sich eine eigenwillige Spannung – die zu übermütigen Spielchen motiviert.
In Don’t Believe A Word, einem alten Gassenhauer der irischen Band Thin Lizzy, beteuert der Sprecher, das angesprochene Du nicht zu lieben, dabei ist er total verliebt. Ein gängiges Motiv im Lovesong, man denke an I’m Not In Love von 10cc oder Ich lieb dich überhaupt nicht mehr von Udo Lindenberg. Doch dann heißt es bei Thin Lizzy: „Don’t believe me if I tell you / That I wrote this song for you / There just might be some other silly pretty girl / I’m singing to.“ Natürlich kann der junge Mann, den man sich beim Hören vorstellt, auch in der Songwelt ein Songschreiber sein. Sein Lied, das womöglich ein echtes, ein bekennendes Liebeslied wäre, würden wir dann aber nicht vernehmen, es bliebe nur kurz erwähnt. Viel näher liegt es doch, „this song“ direkt auf das Musikstück von Thin Lizzy zu beziehen, das man gerade hört. Und das scheint mir auch das zu sein, was bei den meisten Hörerinnen und Hörern unbewusst als Erstes passiert. Damit ist aber die speziell entwickelte Songwelt – die Illusion einer Gesprächssituation oder einer einsamen Monologsituation – durchbrochen. Der Song beschreibt nicht mehr einen fiktiven Jungen, der mit seinen Gefühlen hadert und einem Mädchen dumme Sachen sagt, sondern Musik und Text selbst werden zur direkten Botschaft des Thin-Lizzy-Sängers Phil Lynott an ein konkretes Gegenüber. Oder anders gesagt: Das Song-Ich scheint nicht mehr Teil der Songwelt zu sein, sondern identisch mit demjenigen, der „diesen Song“ zum Besten gibt. Auch wenn die Aussage – „Dieser Song, in dem ich dir sage, dass ich dich nicht liebe, ist nicht für dich“ – etwas verschwurbelt daherkäme. Auf jeden Fall rücken so die Lyrics deutlich in die Nähe des biografischen, zumindest des Show-Ichs.
Aber wer ist das Gegenüber?
Speziell in diesem Song könnte man die kleine, im Ansatz absurde Spielerei schnell auflösen, indem man „this song“ metaphorisch interpretiert – im Sinne von Liebesschwüren oder Liebesgedichten, von Liebesgesäusel, das das Song-Ich an eine Frau in der Songwelt richtet. Denn am Ende handelt es sich auch in Don’t Believe A Word um eine konventionelle, mit Klischees arbeitende Komposition. Im wesentlich eleganteren Stück Your Song von Elton John dagegen wird einem geliebten Du, das natürlich ohne Konturen bleibt, vom Song-Ich in poetischer Manier exakt „dieser Song“ gewidmet: „I know it’s not much but it’s the best I can do / My gift is my song and this one’s for you // And you can tell everybody this is your song / It may be quite simple but now that it’s done / I hope you don’t mind / I hope you don’t mind that I put down in words / How wonderful life is while you’re in the world.“ Auch hier gibt es ein Song-Ich, das sich in der Song-Illusion bewegt, und gleichzeitig ist man geneigt, die Lyrics direkt Elton John zuzuordnen. Besonders ausgeprägt kommt hier aber och die Dynamik zwischen Entertainer und Publikum, zwischen Show-Ich und Fans, ins Spiel. Denn gerade wenn Elton John dieses Lied live vor einer begeisterten Menge spielt, dann klingen etliche der Verse tatsächlich auch wie ein Dankeschön, das der Star mit einnehmender Bescheidenheitsgeste direkt an seine treuen Anhänger richtet.
Der „this song“-Kniff durchzieht die ganze Rockgeschichte, von den Beatles (It’s Only A Northern Song) über P.I.L. (This Is Not A Lovesong) bis hin zu Villagers (Becoming A Jackal), Olly Murs (This Song Is About You) und D.R.U.G.S. (If You Think This Song Is About You, It Probably Is). Die berühmte Blaupause für solche Stücke und gleichzeitig die spektakulärste „This song“-Spielerei der jüngeren Liedgeschichte ist natürlich You’re So Vain, 1972 veröffentlicht von der amerikanischen Singer-Songwriterin Carly Simon. Als besonders clever erweisen sich hier die Refrainverse „You’re so vain / You probably think this song is about you“ – „Du bist so eitel / Wahrscheinlich denkst du auch, dieser Song handele von dir“. Impliziert ist natürlich: „Dabei handelt er gar nicht von dir“, so dass nicht aufgelöst werden kann, an wen genau der Song sich richtet. Denn wenn sich jedermann nur fälschlicherweise mit dem Song identifizieren kann, dann wurde er eigentlich für niemand Konkreten oder – andersherum – für alle eitlen Männer dieser Welt geschrieben. Die Lyrics sind die Abrechnung des weiblichen Song-Ichs mit einem ehemaligen Liebhaber, der sich als eitler Fatzke erwies und nur in einer armselig-glamourösen Scheinwelt lebt. Obwohl der text keine Rückschlüsse auf konkrete Personen zulässt, versuchen Kritiker und Fans seit Jahrzehnten herauszufinden, um welchen Mann aus dem persönlichen Umfeld der Sängerin es sich bei dem Du wohl handeln könnte. Und Carly Simon hat die Diskussion zeitweilig selbst gern befeuert. Ich schätze, ein abschließendes Statement wird ausbleiben. Die Enttäuschung läge letztlich in der Erkenntnis der Fiktion.
Die „Extended Version“ dieses Beitrags wie immer auf Faust-Kultur.