Entziehungskur? Ach nö! Aber vielleicht wollte Amy Winehouse in Rehab ja etwas ganz anderes sagen… Gedanken zum Kinostart von Asif Kapadias Dokumentarfilm Amy
Seit Jahrzehnten gibt es zwei entgegengesetzte Meinungen über Songs: Der einen Meinung nach ist ein Song unmittelbarer Ausdruck der persönlichen Empfindungen des Menschen, der ihn geschrieben hat. Der anderen Meinung nach sind Songs etwas Künstliches – etwas, das vor allem von der Bearbeitung, von der Manipulation lebt. Aktuell sieht man beide Meinungen wieder wunderschön aufeinandertreffen. „Das rote Album“ wird die brandneue Songkollektion der deutschen Band Tocotronic genannt, weil sie einfach mit einem leuchtend roten Cover versehen wurde. Rot ist natürlich die Farbe der Liebe, so weiß der Volksmund, und dazu passt ganz vortrefflich, was inzwischen hinreichend in Pressemitteilungen und Medien kolportiert wurde: dass Tocotronic ein Album über die Liebe gemacht haben.
Die Liebe – eins der ganz großen Gefühle. Klarer Fall, folgert augenzwinkernd Nina Sonnenberg, Moderatorin der 3sat-Reihe „Kulturpalast“: Das muss sich Songschreiber Dirk von Lotzow doch direkt von der eigenen Seele geschrieben haben. Also fühlt sie dem Tocotronic-Mann in der „Kulturpalast“-Sendung vom 4. Juli mächtig auf den Zahn. Doch von Lotzow wiegelt ab: „Ich bin niemand als Autor, der aus Situationen heraus schreibt, und deshalb kann ich auch immer schlecht auf diese Fragen antworten: Schreibst du besser, wenn du glücklich bist oder wenn du unglücklich bist? Das ist eigentlich Authentizitätsquatsch!“ Für ihn hat Songschreiben rein gar nichts mit Herzausschütten zu tun: „Es geht ja nicht so sehr darum, was man selber fühlt“, erklärt er, „sondern dass man etwas macht, was bei den Leuten, die es hören, eine ästhetische Erfahrung oder so was auslöst – dass die was dabei fühlen. Was ich selber dabei gefühlt habe, ist ja unerheblich.“
Aber die Moderatorin lässt nicht locker. „Und trotzdem wirkt das ja alles sehr authentisch, was du schreibst“, hakt sie nach. Und als der Autor ebenso händeringend wie augenrollend nach Worten sucht, fragt sie schelmisch: „Lügst Du uns an?“ Da muss der Tocotronic-Frontmann dann doch mal lachen, und es platzt aus ihm heraus: „Nein, aber das sind Popsongs!“ Was für ihn heißt: „Popmusik ist grundsätzlich nicht authentisch. Das ist ein Kunstprodukt. Das ist eine künstlerische Äußerung, das kann gar nicht so authentisch sein. Ich fände es schon total bescheuert, wenn man ein Album über Liebe machen würde, und es wäre nicht romantisch. Aber es muss ja bei den Leuten, bei den Hörerinnen und Hörern, diese Gefühle auslösen. Und um diese Gefühle auslösen zu können – das ist die Grundidee von Popmusik – muss man die ganz nüchtern behandeln.“
Wham!, das hat gesessen. Welche Meinung über Songs Tocotronic vertreten, dürfte klar sein. Das andere Extrem begegnet uns aktuell in Gestalt von Asif Kapadia. Er ist Filmregisseur, wurde mit einer Dokumentation über den Rennfahrer Ayrton Senna bekannt und bringt jetzt, am 16. Juli, Amy in die deutschen Kinos. Amy ist ein Porträt der 2011 verstorbenen britischen Soulsängerin Amy Winehouse und wird vorab von den Medien hochgelobt. Dem Regisseur soll es um den Punkt gehen, an dem die Karriere des zuletzt von Alkohol und Drogen gebeutelten Stars ins Tragische kippte. In unserem Zusammenhang von Bedeutung ist die Tatsache, dass der Film immer wieder Auszüge aus den Songlyrics von Amy Winehouse einblendet – ganz offenbar weil der Regisseur diese Lyrics als so etwas wie Tagebuchauszüge begreift. So antwortet Kapadia in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift „epd film“ auf die Frage, ob die Entscheidung für das Einblenden der Lyrics erst in der Postproduktion fiel: „Oh nein, dazu entschied ich mich ziemlich früh. Denn wer die Texte liest, versteht Amys Leben. Das war wirklich das Einzige, worüber sie geschrieben hat. Viele Fans haben womöglich nie darüber nachgedacht, dass sie all das selbst verfasst hat. Aber alles, was man wissen muss, findet man in ihren Songs. Für einen Moment hatte ich gedacht, dass es vielleicht überflüssig ist, die Lyrics auch tatsächlich einzublenden. Doch sobald man sie weglässt, fängt man als Zuschauer an, den Kopf im Takt der Musik zu bewegen und mehr der Melodie als dem Text zu folgen.“
Nach dieser Auffassung scheint die Musik eines Songs – der Rhythmus und die Melodie, der Sound, die ganze Atmosphäre – nur zweitrangig zu sein und vom Wesentlichen, dem Text als authentischem Gefühlsausdruck, abzulenken. Da möchte man sich beinahe fragen, warum Amy Winehouse nicht einfach nur Gedichte oder einen Lebensbericht veröffentlicht hat… aber egal. Wichtiger ist die Frage, ob man die Songs von Amy Winehouse, und so viele sind es ja nicht, tatsächlich auf so etwas wie ihren autobiografischen Gehalt festlegen, ja reduzieren kann. Ich bin zumindest skeptisch. Schon als Udo Jürgens von seinem Bruder, dem Maler, sang, hatten sich in den scheinbar autobiografischen Textrahmen – sein Bruder ist tatsächlich ein angesehener Maler – kleine Details eingeschlichen, die so gar nicht der Realität entsprachen. Zum Beispiel war in den Lyrics die Rede davon, dass der Bruder Clowns male, dabei malt der Bruder alles, nur keine Clowns. Und so bin ich sicher, dass sich in fast jedem berühmten Lied, dem man eine große Nähe zwischen Song-Ich und biografischem Ich nachsagt, solche kleinen Detailveränderungen festmachen lassen, zumindest aber Verdichtungen und Zuspitzungen eines Gedankens, der weit über das vordergründige Songthema hinausgeht. Das vordergründige Thema ist dann eher so etwas wie ein Ablenkungsmanöver, eine Blendrakete.
Stichwort Rehab – der 2008 mit diversen Auszeichnungen überschüttete Superhit von Amy Winehouse. „They tried to make me go to rehab / But I said ey no, no, no“, heißt es da einprägsam und: „I ain’t got the time / And if my daddy thinks I’m fine / They tried to make me go to rehab / I won’t go, go, go.“ Also: „Sie haben mich gedrängt, einen Entzug zu machen, / aber ich habe gesagt: Nein, Nein, Nein (…) Ich hab keine Zeit, / Und wenn mein Vater denkt, es ist halb so schlimm… / Sie haben mich gedrängt, einen Entzug zu machen, / ich werd nicht geh’n, nein, nein.“ Man musste nur die Medien-Sensationsberichte der Jahre 2007 bis 2010 verfolgen, um zu sehen, wie nah der Text am wirklichen Leben der mit einer Ausnahmestimme gesegneten Interpretin zu rangieren schien. Es ging ganz offensichtlich um deren nicht von der Hand zu weisende Rauschmittelsucht, um peinliche Auftritte im benebelten Zustand, den Vater, der das Problem verharmloste, oder das Management, das wiederholt versucht haben soll, die Künstlerin zu einem Entzug zu bewegen. Nicht nur aktuell bei Asif Kapadia, sondern schon seit Songerscheinen ist in Internetforen und Zeitungsartikeln von einem „autobiografischen Song“ die Rede. Zum Beispiel auf der Website von Jochen Scheytt, der unter der Rubrik „Popsongs und ihre Hintergründe“ erschüttert feststellt, dass sich „die renitente Aussage des Refrains durch den ganzen Song“ ziehe. Nach erschreckenden Statistiken zum Thema Drogenmissbrauch und wenig erhellenden Kommentaren zu den Lyrics kommt Scheytt zu dem Schluss: „Man wünscht sich, dass die Einsicht noch kommen möge. (…) Ich wünsche mir einen Songtext von Amy Winehouse: ‚I really wanna go to rehab, I wanna go, go, go!’“
Die Songaussage auf die Ablehnung eines Entzugs durch die reale Person Amy Winehouse zu reduzieren, wird dem Stück, wie ich finde, nicht gerecht. Auch macht das Gerede vom autobiografischen Song hier mehr aus dem Ganzen, als es eigentlich ist. Denn Autobiografie ist die Beschreibung des eigenen Lebenslaufs, gespickt mit Reflexionen und persönlichen Einschätzungen – und davon kann in Rehab keine Rede sein. Das Stück ist äußerst redundant – sein Text lebt im Wesentlichen von wenigen ständig wiederholten Versen und ist mitnichten eine reflektierende Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte oder auch nur eines Teils davon. Zum Beispiel wird weder die Heroinproblematik noch der ebenfalls suchtkranke Ehemann der Sängerin, der sowohl in ihrem Leben als auch in den Berichten der Boulevardmedien keine unwesentliche Rolle spielt, auch nur ansatzweise thematisiert. Wollte man den Lyrics nun unbedingt eine allgemeinere Aussage unterstellen, dann vielleicht die, dass sie eine typische Haltung von Alkoholkranken widerspiegeln: Verleugnung und Verdrängung des Problems.
Aber auch das scheint mir ziemlich weit hergeholt.
Da klingen die abschließenden Verse des Stücks schon etwas aufschlussreicher: „The man said, why’d you think you’re here? / I said, I got no idea / I’m gonna, I’m gonna lose my baby / So I always keep a bottle near.“ Übersetzt: „Der Mann fragte mich: Was glauben Sie, warum Sie hier sind? / Ich sagte: Keine Ahnung / Mein Schatz, mein Schatz wird mich verlassen / Also habe ich immer eine Flasche in Reichweite.“ Einsamkeit ist also der Schlüssel, was durch Zeilen wie: „I don’t never wanna drink again / I just, oooh, I just need a friend“ untermauert wird: „Ich will nie wieder trinken, / ooooh, ich brauche einfach einen Freund.“ Nicht unbedingt um ein konstantes Alkoholproblem geht es also in dem Song, sondern eher um Einsamkeit und um Verlustangst, um Gefühle, die vorübergehend zu exzessivem Alkoholgenuss führen – und die Umgebung des Song-Ichs veranlassen, falsche Schlüsse zu ziehen. Nicht die Entzugsklinik wäre demnach die Lösung, sondern ein Ende der Einsamkeit: Geborgenheit und Nähe.
Aber das ist noch nicht alles: Etwa in der Mitte des Stücks gibt es eine weitere Passage, die die Interpretationsansätze noch einmal in eine ganz andere Richtung treibt: „I’d rather be at home with Ray / I ain’t got 70 days“, heißt es da und: „’Cause there’s nothing, there’s nothing you can teach me / That I can’t learn from Mr. Hathaway.“ – „Ich bleib lieber zu Hause mit Ray / Ich habe keine 70 Tage Zeit / Denn da gibt es nichts, was ihr mir beibringen könnt, / das ich nicht auch von Mr. Hathaway lernen kann.“ Mit Ray und Mr. Hathaway sind vermutlich die schwarzen Soulstars Ray Charles und Donny Hathaway gemeint. Ihnen schreibt das Song-Ich eine Lebenserfahrung und eine Weisheit zu, die keine Schulbildung, keine Therapie, kein Entzug vermitteln können. Ray Charles hatte zwar ein Heroinproblem, das er nach einer Entziehungskur überwand, aber Donny Hathaway litt vor allem an Depressionen und war mehrmals in stationärer psychiatrischer Behandlung, bevor er aus dem Fenster in den Tod sprang. Auch angesichts der Tatsache, dass das Song-Ich einen Entzug ablehnt, während Charles eine solche Kur absolvierte, kann das Suchtthema nicht der Grund für den Hinweis auf Ray und Hathaway sein. Vielmehr scheint es um eine Hommage an die große Zeit der schwarzen Soulmusik und ihre durch sämtliche Höhen und Tiefen des Lebens gegangenen Protagonisten zu gehen. Das unterstreichen der packende Rhythmus des Songs und seine wuchtige Soundproduktion, die den Soul der fünfziger und sechziger Jahre beschwört und ins 21. Jahrhundert hinüberholt.
In dieser Hommage und im Thema Einsamkeit, an dem sich auch die Soulmusik immer wieder auf einzigartige Weise abarbeitet, liegt meiner Meinung nach das eigentliche Zentrum von Rehab. Klar gibt es Themen und Motive, die an das wirkliche Leben der Künstlerin erinnern. Trotzdem geht es nicht in erster Linie um ein persönliches Statement der Privatperson Amy Winehouse, die möglicherweise nicht gewillt ist, dem Druck der Öffentlichkeit nachzugeben und endlich ihre Sucht zu akzeptieren. Nein, in erster Linie geht es um eine Huldigung an den Geist der Soulmusik. Die Aufforderungen an das Song-Ich, eine Entziehungskur zu machen, sind nur ein drastisches Bild für dessen Einsamkeit und für das Unverständnis, das mangelnde Einfühlungsvermögen der Menschen in seiner Umgebung. Damit bilden auch bei Amy Winehouse vereinzelte persönliche, autobiografische Elemente lediglich den Aufhänger für eine übergreifende Songbotschaft, die ganz anders gelagert ist, als es vordergründig erscheinen mag – und als es eine sensationsgierige Öffentlichkeit gerne hätte. Rehab ist kein Authentizitätsquatsch, sondern ein klasse gemachtes Kunstwerk mit mehreren Ebenen. Dirk von Lotzow würde sagen: „Rehab macht etwas, was bei den Leuten, die es hören, eine ästhetische Erfahrung auslöst. Was Amy Winehouse selber dabei gefühlt hat, ist unerheblich.“ Man darf gespannt sein, inwieweit Asif Kapadias Doku Amy auch solchen Songaspekten Rechnung trägt.
Hi Ted, dank dieses Artikels werde ich mir den Film „Amy“ mal bei Gelegenheit ansehen. Bin nun neugierig 🙂 (Eigentlich bin ich eher ein Fan von biografischen Spielfilmen wie z.B. „Control“ und keinem Aneinanderreihen von orig. Videoaufnahmen. Ich lass mich jedoch gerne ueberaschen.)
„Control“ fand ich auch gut, aber eher wegen des Zeitkolorits und der legendären Typen und Begebenheiten am Rande. Den inneren Konflikt des Ian Curtis, zumindest wie er im Film dargestellt wurde, fand ich erschreckend banal. „Amy“ wollen wir uns auch anschauen, wobei mir etwas vor den schlimmen Absturzbildern graut, die es sicher auch zu sehen gibt.
Du hast es wiedermal auf den Punkt gebracht. Super!