Detroit im Song: Soul-Mekka, Motor City, Geisterstadt

„Geisterstädte sind das Ergebnis von Flucht- oder Wanderungsbewegungen und damit Zeugnisse für verschiedenste Ereignisse oder Entwicklungen“, heißt es im Ankündigungstext einer Reihe von Reportagen, die diese und kommende Woche auf arte laufen und anschließend noch eine Zeit lang in der Mediathek abgerufen werden können. Neben Riesi in Sizilien, wo der Mangel an Arbeitsplätzen und kriminelle Machenschaften viele Menschen zur Flucht in den Norden getrieben haben, Städten in der Türkei und in China ist auch Detroit im amerikanischen Bundesstaat Michigan Thema (9. und 16. Mai).

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Detroit, Rufnahme „Motor City“, war jahrzehntelang die amerikanische Autometropole und zog in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Arbeitssuchende, darunter viele Schwarze, an. Zwar erlebte die Stadt einen wirtschaftlichen Boom, doch war sie auch gleichzeitig immer wieder Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen zwischen der schwarzen und der weißen Bevölkerung. Heute leidet Detroit aufgrund fehlender Arbeitsplätze, der allgemeinen Wirtschaftskrise und einer rigiden Sparpolitik an drastischem Bevölkerungsschwund und einer hohen Kriminalitätsrate, 2013 musste die Stadt Konkurs anmelden.

Kein Wunder, dass Detroit – durch das berühmte Motown-Label auch eine bedeutende Musikstadt – immer wieder in Songs thematisiert wird. Erst 2011 erschien A Long Time von Mayer Hawthorne, ein mitreißendes Stück im Motown-Sound, das von der Hoffnung auf die Rückkehr zu ruhmreichen Zeiten erzählt, aber auch von der Erkenntnis, dass es bis dahin ein langer Weg sein wird. In der ersten Strophe wird ein Mann namens Henry eingeführt, und unschwer kann man dahinter den Autobauer Henry Ford erkennen. Ford sorgte für den wirtschaftlichen Boom der Stadt, der mit dem krassen Bild der Atombombe verknüpft wird: „Welcome to the Motor Town / Boomin’ like an atom bomb“. Atombombe? Warum das? Wahrscheinlich weil mit dem Aufschwung eine explosive soziale Gemengelage zwischen Schwarz und Weiß entstand – und weil es 1966 in einem Forschungsreaktor bei Detroit zu einer partiellen Kernschmelze kam: ein Unfall, bei dem wie durch ein Wunder kein größerer Schaden entstand. In der zweiten Strophe des Songs geht es um einen Mann namens Berry, und natürlich ist Berry Gordy gemeint, der Gründer eben jenes Motown-Labels, das von Smokey Robinson und den Supremes über die Four Tops und die Temptations bis hin zu den Jackson Five, Stevie Wonder oder Lionel Richie etliche amerikanische Soulgrößen herausbrachte. Mit der wunderbaren Konsequenz: „Oh, people all around the world / Tuning in their radios“.

Henry und Berry, so der Refrain, waren die geschichtlichen Höhepunkte, das Ultimative, „the end of the story“, danach jedoch ging alles den Bach runter. Und doch wird auch die Entschlossenheit formuliert, etwas für den langwierigen Wiederaufstieg dieser Geisterstadt zu tun. „Then everything went wrong / And we’ll return it to ist former glory / But it just takes so long … It’s gonna take a long time / It’s gonna take it but we’ll make it one day.“

Explizit um den Reaktorunfall von 1966 geht es in We Almost Lost Detroit von Rap- und Soulpionier Gil Scott-Heron. Der klare, kaum poetisch verdichtete Text führt dem Hörer immer wieder die schreckliche Vorstellung vor Augen, dass damals beinahe eine ganze Stadt zerstört worden wäre. Atomkraft, singt Scott-Heron, ist eigentlich ein vom Wahnsinn getriebenes Konzept, bei dem es letztlich nur um Geld geht. Die Sicherheit der Menschen bleibt zweitranging: „That when it comes to people’s safety / Money wins out every time / And we almost lost Detroit this time, this time. / How would we ever get over / Over losing our minds? / You see, we almost lost Detroit / That time.“ Freunden der Coverversion sei die wesentlich lautere, aber nicht minder beeindruckende Interpretation des Stücks durch Dale Earnhadt Jr. Jr. empfohlen.

Eine besonders aufregende Phase erlebte Detroit in den 1960er Jahren, als es im Zuge der Rassendiskriminierung immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Schwarzen und Weißen kam – Letztere unterstützt von großen Teilen der Polizei.

Die Kämpfe gipfelten 1967 in den „12.-Straße-Unruhen“ („12th Street Riot“). Anlass war eine Polizeirazzia in einer Bar an der Ecke Clairmont Street, die anschließenden Straßenschlachten dauerten fünf Tage und forderten – auch weil Armee eingesetzt wurde – über 40 Todesopfer. Etliche Hundert Häuser wurden verwüstet. In The Motor City Is Burning, der nervösen Aufarbeitung der Ereignisse durch den Bluesmusiker John Lee Hooker, blickt noch im selben Jahr ein fassungsloses Ich auf die brennenden Straßen. Erinnerungen an den Vietnamkrieg drängen sich auf, man spürt die Angst des Sprechers, seine Heimatstadt könne komplett zugrundegehen. Weder weiß das Ich, was es gegen die Zerstörung tun kann, noch versteht es die Zusammenhänge, die zu den Unruhen geführt haben. Wie heftig die Wut der Bewohner des Viertels ist, zeigt das Bild der Heckenschützen, die die Feuerwehr am Löschen der Flammen hindern. Hier die ersten beiden Strophen: „Oh, the motor city’s burnin’, it ain’t no thing in the world that I can do / Don’t ya know, don’t ya know the big D is burnin’,ain’t no thing in the world that Johnny can do / My home town burnin’ down to the ground, worser than Vietnam. // Well, it started on 12th and Clairmont this mornin’, I just don’t know what it’s all about / Well, it started on 12th and Clairmont this mornin’ I don’t know what it’s all about / The fire wagon kept comin’, the snipers just wouldn’t let ’em put it out.“

Die 1960er Jahre waren aber auch die große Zeit der amerikanischen Gegenkultur, der Friedens- und der Protestbewegung, zum Teil vorgetragen mit revolutionärem Impetus. Und nicht wenige weiße Rockmusiker lieferten den Soundtrack dazu. Wie die in Detroit ansässige Band MC 5 (für „Motor City Five“), die sich nicht durch einen rauen Sound, sondern auch durch provokante Parolen auszeichnete und für viele Kritiker schon auf die Punkbewegung 10 Jahre später vorauswies. Ihre internationale Karriere starten MC 5 im Jahr 1969 höchst ungewöhnlich, nämlich gleich mit einer Live-LP, die auch eine Coverversion von John Lee Hookers The Motor City Is Burning enthält. Hier drosseln die Musiker das Tempo des Originals und verleihen dem Stück etwas Düster-Bedrohliches, etwas Dampfwalzenhaftes. Der Text wird an wenigen Stellen markant verändert, wodurch er seinen fassungslosen, resignativen Charakter verliert: Nicht der Sprecher des Songs hat keinen Schimmer, was er tun soll, sondern die Gegenseite, die weiße Gesellschaft („they“, „white society“) muss tatenlos zusehen, wie die Schwarzen für ihre Rechte kämpfen. In der zweiten Strophe wird das ungläubige Nicht-Verstehen des ursprünglichen Song-Ichs durch einen hasserfüllten Hinweis auf die anrückende Polizei ersetzt – die Rede ist von umherspringenden und -schreienden „pig cops“ („Bullenschweinen“). Und aus den anonymen Heckenschützen, die die Feuerwehr am Löschen der Flammen hindern, werden explizit Heckenschützen der radikalen Bürgerrechtsbewegung „Black Panthers“, mit denen sich die Band letztendlich solidarisiert. Hier die beiden ersten Strophen der Coverversion von MC 5: „Ya know, the motor city is burning, babe, there ain’t a thing in the world they can do / Ya know, the Motor City is burning, people, there ain’t a thing that white society can do / Ma home town burning down to the ground, worser than Vietnam. // Let me tell you how it started now: It started on 12th Clairmount that morning, it made the… the pig cops all jump and shout / I said, it started on 12th Clairmount that morning, it made pigs in the street go freak out / The fire wagons kept comin’, baby, but the Black Panther snipers wouldn’t let them put it out.“ Sprach aus dem Original ein verunsicherter Schwarzer, ein um seine Zukunft bangender „kleiner Mann von der Straße“, äußert sich bei MC 5 ein selbstbewusstes Song-Ich, das dem unterdrückerischen weißen Establishment den Kampf ansagt. Auch andere amerikanische Städte sind mit ihren Problemen in Songs thematisiert worden, etwa der einst dahinsiechende Seehafen Baltimore (Randy Newman) oder die Spielerstadt Atlantic City (Bruce Springsteen). Aber das sind wieder ganz andere Geschichten.

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