Unter der Oberfläche

Shallow von Lady Gaga & Bradley Cooper ist tatsächlich ein verdammt gelungener Song. Auch wenn – oder gerade weil – er leiseste Anklänge an einige andere große Songwriter-Hits enthält.

Es gibt Songs, die hört man zum ersten Mal – und doch meint man, sie schon seit Jahren zu kennen. Das kann ein unschönes Gefühl sein, etwa wenn das, was man hört, wenig eigenständig und vor allem schamlos abgekupfert klingt. Es kann aber auch ein aufregendes Gefühl sein. Zum Beispiel dann, wenn das, was man hört, auf angenehme Weise an gleich mehrere andere Songs erinnert, ohne dass man auf Anhieb sagen könnte, um welche Songs es sich handelt. Die Songwriterin oder der Songwriter hat – ob bewusst oder intuitiv – verschiedene Einflüsse so verarbeitet, dass etwas völlig Individuelles entstanden ist, in dem das Altbekannte aber wohlig bis nostalgisch nach-, an- und mitklingt. Weil sich die Einflüsse elegant und fast schon organisch zu einem neuen Ganzen zusammenfügen, ist man als Hörer tagelang mit der wunderbar quälenden Frage beschäftigt: Verdammt, an wen oder was erinnert mich dieser Sound, diese Stimmung, diese Melodie, diese Akkordfolge bloß?

Aktuell geht es mir so mit Shallow, dem von Lady Gaga und Bradley Cooper gesungenen Hit aus dem Film A Star Is Born. Geschrieben von Lady Gaga, Andrew Wyatt, Anthony Rossomando und Mark Ronson, hat das Stück verschiedene hochkarätige Auszeichnungen, zuletzt den Oscar für den besten Filmsong eingeheimst. Shallow ist überpräsent im Radio und in den (sozialen) Medien, dazu gibt’s Spekulationen, ob die Gaga-Lady vielleicht was mit Coopers Bradley hat – was sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht hat. Man kommt an der Nummer einfach nicht vorbei. Aber das ist nicht der Grund, warum man das Gefühl haben kann, den Song schon jahrelang zu kennen. Es ist zunächst das Modell Promi-Schmacht-Duett, mit dem man selten etwas falsch macht. Und dann ist es die Art, wie die akustische Gitarre zum Einsatz kommt. Die Gesamtstimmung des Songs. Es sind ein paar markante Akkordfolgen im Refrain. Und es ist die Melodieführung im Strophenteil.

Ich mag mich irren und man darf mir gerne widersprechen, aber hier sind die vier Songs, die Shallow in meinem Unterbewussten nachhallen lässt. Wie gesagt: Ich will gerade NICHT auf die Plagiatsthematik hinaus, im Gegenteil: Das Beste und Markanteste aus verschiedenen Hits herauszufiltern und dezent zu einem neuen harmonischen Ganzen zusammenzufügen, das viele Hörerinnen und Hörer berührt, halte ich für große Songkunst. Extreme hieß eine amerikanische Band, die um 1990 mit dem besinnlichen Liebeslied More Than Words einen Welthit hatte. Es ist weniger die Melodie als die Gesamtstimmung, die mich an Shallow erinnert – und natürlich die Art und Weise, wie die akustische Gitarre gezupft und geschllagen wird.

An Only You von Yazoo, und hier besonders an den Refrain mit den Zeilen „All I needed was the love you gave / All I needed for another day / And all I ever knew / Only you“, erinnern mich ein paar Akkordfolgen von Lady Gaga & Bradley Cooper. Auch Selena Gomez hat den Evergreen Only You gecovert, und in ihrer unaufgeregten Elektronikversion kommen die feinen Harmonien sehr gut zur Geltung.

Was die Gesamtstimmung, aber auch Elemente der Melodieführung betrifft, fiel mir irgendwann noch der alte Kansas-Gassenhauer Dust in the Wind ein. In Shallow wurde er – zugegeben – womöglich nur ganz entfernt verwurstet, und dabei doch weitaus gelungener als in einer aufdringlich-notorischen Teeklame aus den Neunzigerjahren.

Die intensivsten Anklänge meine ich jedoch an einen Song der schwedischen Band The Cardigans aus dem Jahr 2003 zu hören. And Then You Kissed Me heißt er, verbindet das große Gefühl der Liebe mit dem hässlichen Thema der häuslichen Gewalt und ist bei allen unschönen Details … einfach anrührend. Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber wenn nach dem seltsamen Orgelintro akustische Gitarre und Gesang einsetzen, dann klingt das für mich schon wie eine melodische Blaupause für den ersten Songteil von Shallow.

Alle genannten Songs sind natürlich in sich völlig anders gestrickt, kommen von woanders her und entwickeln sich woanders hin. Dennoch sind es ihre leicht verwischten Spuren, die Shallow in meinen Ohren so vertraut und so zwingend klingen lassen. Unter der Oberfläche gibt es einiges zu entdecken, nicht umsonst heißt es im Text mehrdeutig: „We’re far from the shallow now …“ Etwas ganz Eigenständiges schafft der Song dann dadurch, dass er weniger nach dem Strophe-Refrain-Schema funktioniert, sondern sich langsam, aber stetig auf einen dramatischen Höhe- und Schlusspunkt hin steigert.

Lady Gaga gehört zu Recht zu den ganz Großen der Popmusik. Neben cleverem Songwriting sind es Power-Vocals, extravaganter Stil, eine provozierende Ambivalenz samt mehreren Songebenen und immer neue überraschende Häutungen, die sie zum faszinierenden Megastar machen. Ob Dancefloor-Queen oder Country-Lady, Rockröhre oder gefühlvolle Singer-Songwriterin: Was sie auch anstellt, es wirkt in der jeweiligen Phase ungeheuer authentisch und ist doch immer Teil eines schillernden Gesamtkunstwerks aus Überwältigungs-Performance und kraftvoller Musik. Mit dieser Qualität ist sie als gelegentlicher Gaststar eine absolute Bereicherung, selbst für gewiefte Ausnahmemusiker wie Sting.

This song is (not) your song

Wie Lady Gaga beim „Super Bowl“ Donald Trump diskret den Marsch blies

Nur ganz selten haben Songs so wie Bob Dylans Hurricane unmittelbar Einfluss auf das politische Geschehen: Das 1975 eingespielte Stück thematisierte den Fall des wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilten schwarzen Ex-Boxers Rubin „Hurricane“ Carter. Minutiös deckten damals Dylans Lyrics die Schwachstellen der Anklage auf und untermauerten die These vom rassistisch motivierten Fehlurteil. Der Erfolg des Songs führte zu einer Neuaufnahme der Ermittlungen und – in dritter Instanz – zum Freispruch Carters. Respekt! In der Regel aber haben politische Songs natürlich nur eine indirekte Wirkung, ihre Kraft entfaltet sich eher auf der symbolischen Ebene: indem sie konkrete Haltungen formulieren, Stimmungen untermauern, den Soundtrack einer bestimmten Bewegung bilden. Und natürlich spielen dabei oftmals Andeutungen, Zuspitzungen und ein Augenzwinkern eine große Rolle.

Insofern gebührt Lady Gaga, der amerikanischen Pop-Ikone mit Superstarstatus, großes Lob. Denn beim „Super Bowl“, dem weltweit übertragenen Meisterschaftsfinale der US-American-Football-Profis, nutzte sie Anfang Februar 2017 die Halbzeitshow nicht nur für ein Medley ihrer eigenen Hits, sondern auch für ein musikalisch cleveres politisches Statement. In einer kurzen, aber prägnanten Anfangssequenz spannte sie einen Bogen von Irving Berlins patriotischer Hymne God Bless America (1918) zum sogenannten „Pledge of Allegiance“, dem Treuegelöbnis gegenüber Amerika, und platzierte dazwischen ein paar Verse aus Woody Guthries Folk-Klassiker This Land Is Your Land. Wer flüchtig hinhörte, konnte, selbst bei tiefstpatriotischer oder gar fremdenfeindlicher Gesinnung, nichts wirklich Irritierendes heraushören und die Show genießen. Doch wer genauer hinhörte, entdeckte interessante Zusammenhänge, die es in sich hatten. Wenn man so will, stand Berlins God Bless America für Trumps protektionistisches Credo „America first!“, während gerade die Schlussworte des „Pledge of Alliance“ – „one nation under God, indivisible, with liberty and justice for all” – eben jenen Donald Trump daran erinnerten, Freiheit und Gerechtigkeit gegenüber ALLEN Menschen walten zu lassen. Subtext: „Der von dir verhängte Einreisestopp für Muslime, Herr Präsident, ist gegen uramerikanische Werte.“

Das dazwischengeschaltete This Land Is Your Land von Woody Guthrie untermauert diese Lesart, weil es 1940 auch als bittere Replik auf Berlins God Bless America entstanden war. Einen Anstoß für den Song bildeten damals die inneramerikanischen Wirtschaftsflüchtlinge aus der von Dürre geplagten „Dust Bowl“, etwa aus Oklahoma, die an der amerikanischen Westküste alles andere als begeistert aufgenommen wurden. Diese ablehnende Haltung gegenüber Flüchtlingen zeigte Guthrie, einem ausdrücklich im linken politischen Spektrum angesiedelten Sänger, dass Amerika eben kein „land that’s free“, kein „land so fair“ war, wie Berlin es formuliert hatte. Interessant sind die verschiedenen Versionen, in denen das Lied existiert. So besteht, aus welchem Grund auch immer, die berühmte 1947 eingespielte Fassung nur aus drei Strophen. Und diese preisen ausschließlich die Schönheit Amerikas beziehungsweise seine positiven Seiten. Zum Beispiel: „This land is your land, this land is my land / From California to the New York island / From the red wood forest to the Gulf Stream waters / This land was made for you and me.“ Diese Fassung wurde zu so etwas wie einer inoffiziellen Nationalhymne.

Es gibt aber auch eine 1944 eingespielte Fassung, die weitere Strophen enthält – und in diesen Strophen formuliert Guthrie beißende Sozialkritik. Zum Beispiel geht es um Menschen, die hungernd vor dem Sozialamt stehen („I seen my people as they stood there hungry“), was die fassungslose Frage provoziert: „Is this land made for you and me?“ Ein so schönes, großes Land wie Amerika, so lässt sich interpretieren, sollte eigentlich frei von Ausgrenzung sein und jedem Menschen ein gutes Leben ermöglichen. Eine Schande, dass es hier Menschen gibt, die nichts zu essen haben. In einer weiteren Strophe kommt das Song-Ich auf seiner Reise durch Amerika an ein Schild mit der Aufschrift „Betreten verboten“. Es folgt der messerscharfe Schluss: Wer von der anderen Seite auf das Schild zuläuft, für den gibt es keine Beschränkungen – und das, so der Text, solle doch für alle gelten: „As I went walking I saw a sign there / And on the sign it said ‚No Trespassing’ / But on the other side it didn’t say nothing / That side was made for you and me.“ Diese Argumentation wird schließlich – Achtung! – mit dem Bild einer großen Mauer wiederholt: „There was a big high wall there that tried to stop me / The sign was painted, it said private property / But on the back side it didn’t say nothing / That side was made for you and me.“ Wer da gerade in der heutigen Zeit mal nicht an Trumps Pläne für eine Grenzmauer zu Mexiko denkt…

Natürlich konnte Lady Gaga This Land Is Your Land ausgerechnet beim Super Bowl nicht mit den sozialkritischen Strophen singen, es hätte das Event gesprengt. Aber der Kontext, in den sie das Lied im Rahmen ihrer Halbzeitpausen-Show einbettete, sprach Bände. Zwischen den Zeilen kamen Fragen auf: Kann ein Lied, das die Schönheit eines riesigen Landes besingt und obendrein betont, dass dieses riesige Land einfach allen Menschen gehöre, auch von allen Menschen gesungen werden? Die unausgesprochene Antwort: Wohl eher nicht. Denn wenn ein solches Lied von Anhängern der unterschwellig rassistisch und antisozial argumentierenden amerikanischen Tea-Party-Bewegung angestimmt wird oder den Soundtrack zu Veranstaltungen der ultrakonservativen National Organization for Marriages bildet, die gegen die gleichgeschlechtliche Ehe agitiert, dann ist das ein Widerspruch in sich. Zeilen wie „This land was made for you and me“ klingen dann angesichts der sie begleitenden Ausgrenzungsrhetorik einfach nur zynisch. Und sie passen auch überhaupt nicht zu einer menschenfeindlichen Haltung, wie ein Präsident Donald Trump sie 2017 an den Tag legt.

Es ist bezeichnend, dass der Song 2009 bei der Inaugurationsfeier des Demokraten Barack Obama im Vortrag durch Bruce Springsteen, Folk-Urgestein Pete Seeger und andere auch mit sozialkritischen Passagen erklingen durfte. In ultrareaktionären Kontexten werden diese Passagen in der Regel geflissentlich ignoriert. Lady Gaga ließ sie ebenfalls weg, brachte sie aber kurz nach der Inauguration Trumps indirekt ins Spiel und wies damit subtil auch auf die dramatische Spaltung der amerikanischen Gesellschaft hin. Anschließend stürzte sie sich theatralisch von der Tribüne. Pop at ist best!

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Woody Guthries This Land Is Your Land ist auch ein Thema in meinem Mitte März bei THEISS erschienenden Buch I Don’t Like Mondays – Die 66 größten Songmissverständnisse