Sachbuch-Wundertüte mit Ecken, Kanten und Tiefgang

33 Texte aus der Frankfurter Pop-Anthologie der FAZ sind jetzt als Buch erschienen. Titel: Drop It Like It’s Hot. Leseeindrücke

Das populärwissenschaftliche bis akademische Unter-die-Lupe-Nehmen von Songs erfreut sich großer Beliebtheit. Und gern erfolgt es in Serie. Das Spektrum reicht hier von der Hörfunk- und Fernsehinstitution Popsplits über Buchreihen wie The Story Behind … von Thomas Steinberg oder Berühmte Songzeilen und ihre Geschichte von Manfred Prescher/Günther Fischer bis hin zu großangelegten Anthologien im Internet. Das Onlineportal Deutsche Lieder. Bamberger Anthologie darf dabei als Nonplusultra für Songs aus dem deutschsprachigen Raum gelten: Unter der Regie von Martin Rehfeldt (Herausgeber) und Jan Hurta (Redaktion) erscheinen auf Deutsche Lieder seit Jahren ernsthafte Auseinandersetzungen mit gefeierten, aber auch mit umstrittenen deutschen Songs der unterschiedlichsten Genres – die Beiträge haben oftmals erhellenden Charakter. International und vor allem auf die popmusikalischen Genres ausgerichtet gibt sich dagegen die Frankfurter Pop-Anthologie der FAZ. Unter diesem Label – frei nach der 1974 von Marcel Reich-Ranicki begründeten Frankfurter (Literatur-)Anthologie – sind auf faz.net in einem Zeitraum von mehr als fünf Jahren an die 140 Beiträge erschienen, wobei der Ansatz weniger wissenschaftlich als spielerisch offen ist. Die Autorinnen und Autoren schreiben einfach über ihre Lieblingssongs – auf welche Aspekte sie dabei den Schwerpunkt legen, bleibt ganz ihnen überlassen. Auch der Bekanntheitsgrad eines Songs scheint keine große Rolle zu spielen: So findet selbst Obskures, längst Vergessenes oder nur einer Handvoll Nerds Bekanntes seinen Weg in die Sammlung.

Mit Drop It Like It’s Hot sind nun 33 Texte dieser Frankfurter Pop-Anthologie als Buch erschienen. Die Herausgeber des Bandes, die FAZ-Feuilleton-Redakteure Uwe Ebbinghaus und Jan Wiele, äußern sich nicht zu den Kriterien ihrer Textauswahl – diese scheint aber einen guten Querschnitt durch das bisher aufgelaufene Internetangebot zu bieten. So werden neben Welthits wie Bobby Brown (Frank Zappa) und Hallelujah (Leonard Cohen) Artrock-Perlen wie The Musical Box (Genesis), experimentelle Filmmusiken wie Container (Fiona Apple), französische Sixties-Nischenhits der Marke Les Élucubrations (Antoine) und verstörende Schlager wie Smog in Frankfurt (Michael Holm) besprochen – zu den Autorinnen und Autoren gehören Kolleginnen und Kollegen sowie der eine oder andere Gaststar, darunter Annette Humpe, einst Songwriterin und Sängerin der wunderbaren NDW-Band Ideal.

Der „Kessel Buntes“-Ansatz der Frankfurter Pop-Anthologie ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits sorgt er für ein Leseerlebnis voller Überraschungen, da jeder Text anders an seinen Gegenstand herangeht. Er fördert unerwartete Erkenntnisse zutage und macht Lust, selbst abseitige Songs neu zu entdecken. Auf der anderen Seite muss man sich auf teils sehr subjektive Einschätzungen und wilde Spekulationen einlassen, gerade bei weniger bekannten Songs und Acts fühlt man sich ohne behutsame Moderation in medias res geworfen, mitunter bleibt man unzufrieden, im schlechtesten Fall ratlos zurück. So kämpft sich Rose-Maria Gropp zwar tapfer durch die verschiedenen Fassungen von Hallelujah, nennt unzählige biblische Bezüge und literarische Assoziationen, suggeriert sprachlich geschliffen ein tieferes Verständnis, lässt aber letztlich einen roten Faden ihrer Argumentation geschweige denn ein klares Statement zur Bedeutung, zum Clou oder eben zur Uninterpretierbarkeit des Cohen-Klassikers vermissen. Ähnlich anstrengend sind die Einlassungen von Kunstgeschichtler Stefan Trinks zum Nick-Cave-Song The Mercy Seat, da lediglich der Songinhalt und vor allem das dazugehörige Musikvideo minuziös nacherzählt werden, ohne dass Zitate aus den Original-Lyrics Halt geben. Das liest sich zwar leidenschaftlich-blumig, ist aber zu sehr Fanperspektive und zieht letztlich abstrakt, wie ein surrealer Clip am inneren Auge des wissbegierigen Popfans vorbei. Mercy Seat sei ein „Lied der Urängste, von (Gott-)Verlassenheit, Verzweiflung, Auflehnung, Resthoffnung auf Erlösung“, schreibt Trinks: „An Cave ist tatsächlich, wie oft geschrieben wurde, ein Priester verloren gegangen.“ Gibt’s ja nicht – aber hätte man das nicht auch in weniger als achteinhalb Buchseiten auf den Punkt bringen können? Wenn Uwe Ebbinghaus bei der Betrachtung des Songs Drop It Like It’s Hot (Snoop Dog feat. Pharell) aus augenzwinkernd unbedarfter Elternperspektive die „oft eindeutig nur gespielte Fluch- und Drohkulisse“ der „meist schwarzen Rapper“ betont und die lässig behauptete Ironieerkennungskompetenz vieler Jugendlicher feiert, läuft er zumindest Gefahr, die wirklich unappetitlichen Aspekte des Gangsta-Rap zu verharmlosen. Und wenn Hip-Autor Joachim Bessing (Tristesse Royale) im Text zu Michael Holm einen exklusiven Szenetalk einschließlich Namedroppings und nerviger Schwafel- und Schachtelsätze zelebriert, zieht’s einem schon mal die Schuhe aus. Kostprobe: „Thomas Meinecke, der damals leider nicht dabei war, obwohl er ja Hamburger ist, wohingegen ihn beinahe alle für einen Bayern halten aufgrund seines lebensfrohen Leibesumfangs, hat ja angesichts der Dichtkunst Albert Ostermeiers ganz richtig angemerkt, dass solche Poesie vor allem in der Kunst besteht, am rechten Ort in der Zeile die Return-Taste zu drücken. In dieser Hinsicht ist der Text von ‚Smog in Frankfurt’ Avantgarde.“ Selige SPEX-Zeiten lassen grüßen …

Gewagt, aber durchaus spannend lesen sich Beiträge, die ihrem Gegenstand mit Überidentifikation oder aber mit einer lässigen Ignoranz begegnen. So lässt Jan Wiele in seinen Ausführungen zu Diamonds and Rust von Joan Baez literaturwissenschaftliche Grundannahmen wie „Das lyrische Ich ist nicht gleichzusetzen mit dem Autor oder der Autorin“ ganz bewusst außer Acht und deutet den Song völlig schmerzfrei als autobiografisch motivierte Abrechnung der Folk-Ikone Joan Baez mit ihrem arschigen Ex-Lover Bob Dylan. Zwischen aufschlussreichen Informationen zur Musikszene der Siebzigerjahre zeigt sich Wiele dabei derart empathisch gegenüber der Songwriterin, dass man meinen könnte, er selbst sei auch schon mal so arschig behandelt worden oder gar ein bisschen in Joan Baez verliebt. FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube bringt es fertig, fast einen ganzen Essay lang allgemein über das Wesen von Lyrik und Lyrics, das lyrische Ich und das lyrische Du zu philosophieren, sein eigentliches Thema aber, den Song Wrecking Ball von Miley Cyrus, nur in den allerletzten Zeilen kurz zu streifen – ein kleines Husarenstück, vielleicht. Und Annette Humpe, die eigentlich etwas über den Rolling-Stones-Klassiker Sympathy for the Devil schreiben soll, bekennt gleich am Anfang, dass sie eigentlich die Beatles für die Größten hielt und hält. Die Stones hätten durchaus etwas Faszinierendes und sogar Angsteinflößendes gehabt, gibt sie zu, „Die wollten Sex, das war mir zu viel“, aber auch Waiting for the Man von The Velvet Underground sei kein schlechter Song gewesen, was fast unmittelbar zu Blondie, Devo, Talking Heads oder Flying Lizards und schließlich zur Gründung von Humpes eigener Band Ideal führt. Huch? Der Text wirkt naiv und fast schon fahrlässig am Thema vorbei – gleichzeitig erzählt er, oszillierend zwischen Scharlatanerie und Genialität, wie die Autorin sich selbst fand und zur Künstlerin wurde. Hm, ja … so kann man’s auch machen. Ein weiterer origineller Beitrag kommt von Jens Buchholz: Rund um den Alphaville-Hit Forever Young schwadroniert er launig über popspezifisches „Smurfing“ – eine Fantasiesprache, die sich aus dem immer wieder scheiternden Entschlüsseln schwer verständlicher Songlyrics ergibt. Sein erheiterndes, die übrigen Buchbeiträge wohlwollend konterkarierendes Fazit: „Nicht Englisch ist die Muttersprache des Pop, sondern Smurfing.“

Und natürlich gibt es etliche Texte, die Langweilern wie dem Rezensenten genau das bieten, was sie von Anfang an erwartet haben: ordentliche Leserführung, relevante Hintergrundinfos und eine gut begründete Einschätzung zur Bedeutung des besprochenen Songs. So erklärt Oliver Jungen, Grammatikspezialist und Koautor eines Buchs über das Scheitern, eindrucksvoll die Wirkmacht des Songs Meat Is Murder und der Band, die ihn produziert hat, des kämpferischen britischen Außenseiter-Quartetts The Smiths. Elene Witzeck entschlüsselt einfühlsam die Naturmetaphorik im Bossa-Nova-Klassiker Aguas de Marco von Elis Regina und Tom Jobim. Die Lektorin und Literaturkritikerin Miryam Schellbach wiederum bringt uns das Werk der auch in der abendländischen Independent-Film- und -Musikszene geschätzten libanesischen Songwriterin Yasmine Hamdan näher, und Christina Dongowski macht verständlich, wie Kate Bush sich in ihrem ersten Hit Wuthering Heights einerseits auf Emily Brontës gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1847 bezieht und andererseits den Grundstein für eine ganz eigene, einzigartige künstlerische Vision legt. Talk Talk, Adriano Celentano, Element of Crime, Peter Fox oder die Hothouse Flowers sind weitere Stars, die mit je einem ihrer Songs ins Schaufenster gestellt werden.

Holla … Auf den ersten Blick dachte ich, Drop It Like It’s Hot sei ein leichtgängiger Band zum Wegschmökern, auch als feines Geschenk für Popfans im Freundeskreis bestens geeignet. Und ja: Das Buch lässt sich prima verschenken. Aber das mit dem Wegschmökern war wohl doch eher „wishful thinking“. Für eine entspannende Strandlektüre hat das Textmaterial letztlich zu viele Ecken und Kanten, auch ungeahnte Tiefen, in denen es sich zurechtzufinden gilt. Weshalb ich angefangen habe, Drop It Like It’s Hot gleich ein zweites Mal zu lesen …

Uwe Ebbinghaus & Jan Wiele (Hg.), Drop It Like It’s Hot. 33 (fast) perfekte Popsongs. Reclam 2022, 15 Euro

Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin …

Schon 1954 schrieb Boris Vian das Antikriegslied Le déserteur. Heute wünscht man sich, es würde auch in Russland gehört

Der Vietnamkrieg der 1960er Jahre kam für die USA keineswegs aus dem Nichts. Einige seiner Ursachen liegen im Indochinakrieg, den Frankreich in den 1950er Jahren als Kolonialmacht in Vietnam gegen die vietnamesischen Kommunisten führte. Vietnam wurde von China unterstützt, Frankreich von Amerika, dessen Regierung sich in dieser Zeit massiv von der Sowjetunion, von China, von Sozialismus und Kommunismus bedroht sah. Höhepunkt dieser Paranoia war die „sogenannte McCarthy-Ära. Von 1950 bis 1954 wurden unter Senator Joseph McCarthy diverse Vertreter des Regierungsapparats und Kulturschaffende der kommunistischen Unterwanderung der USA bezichtigt, was zu einem Klima der Angst führte. Nach der Niederlage der Franzosen 1954 war es die Intervention der USA, die zur Teilung Vietnams in einen Nord- und einen Südstaat führte. Vor allem der schreckliche Vietnamkrieg im darauffolgenden Jahrzehnt hat in den Annalen der Weltgeschichte große Resonanz gefunden. Doch auch für Frankreich waren die Kriegszeiten damit nicht vorbei. Denn Algerien kämpfte ebenfalls um seine Unabhängigkeit – ein Konflikt, der sich zum Algerienkrieg (1954–1962) ausweitete und das Ende von Frankreich als Kolonialmacht einläutete.

Praktisch in die Zeit zwischen Indochina- und Algerienkrieg hinein schreibt 1954 der französische Schriftsteller Boris Vian das Lied Le déserteur. Der Titel sagt schon fast alles: Ein junger Mann erklärt, dass er trotz Einberufung nicht in den Algerienkrieg ziehen, sondern desertieren werde. Interessant ist die Form des Liedes: Die Musik schwankt trügerisch zwischen heiterem Chanson und marschmusikalischen Ansätzen, der Text ist gestaltet als Brief an den Staatspräsidenten, geschrieben von einem Wehrpflichtigen, der sich „vor Mittwochabend“ („avant mercredi soir“) zum Kriegsdienst melden soll: „Monsieur le Président / Je vous fais une lettre …“ Die Argumentation dieses Schreibens: Ich will Sie nicht in Wut versetzten, aber ich will einfach nicht irgendwelche armen Menschen töten. Ich habe meinen Vater sterben, meine Brüder gehen und meine Kinder weinen sehen. Als ich im Gefängnis war, habe ich meine Frau verloren. Ich werde desertieren und auf meinem Weg andere aufrufen, es mir gleichzutun. Falls  Sie mich jagen, dann warnen Sie Ihre Gendarmen: Ich habe eine Waffe, und ich kann schießen. Gerade die letzten Verse rund um die Waffe empfanden auch Vian-Freunde als zu aufrührerisch, weshalb der Autor sie später in pazifistischem Sinne umdichtete. Der neue Tenor lautete: Und falls Sie mich jagen, dann warnen Sie Ihre Gendarmen: Ich habe keine Waffe, und sie dürfen schießen. 

Als das Lied erschien, zeigtensich Politiker geschockt und forderten ein Verbot. Das führte zu einem berühmten Brief Vians an Paul Faber, Mitglied des Rates des Départements Seine. Obwohl das Lied mit seinem Rollen-Ich, das wie ein Modell-Ich für alle zukünftigen Deserteure wirkt, in der Interpretation verschiedener Sänger auf den Konzertbühnen des Landes grundsätzlich gut ankam, wurden Livedarbietungen regelmäßig von Nationalisten gestört. Wie das Internetportal „Graswurzel.net“ beschreibt, machte auch Pierre Poujades rechtspopulistische „Union zur Verteidigung der Kaufleute und Handwerker“ mit Mitgliedern wie dem jungen Jean-Marie Le Pen kräftig Stimmung. Die Folge: Le déserteur wurde bis zum Ende des Algerienkriegs nicht im Radio gespielt.

In den folgenden Jahrzehnten stand das Lied vor allem bei Wehrdienstverweigerern hoch im Kurs. Während der Sixties griff es die amerikanische Protestbewegung auf, die gegen den Vietnamkrieg auf die Straße ging. Interpretiert und auf Schallplatte veröffentlicht wurde der Song in den USA von Peter Paul & Mary, auch Joan Baez hat ihn gesungen. Ob Le déserteur für Dear Mr. President von Pink Pate gestanden hat, ist nicht bekannt. Aber der 2006 erschienene Song der amerikanischen Rocksängerin ist ebenfalls als kritischer offener Brief an den Präsidenten gestaltet, in diesem Fall George W. Bush, nur dass er neben der Kriegsthematik (vor dem Hintergrund des Irakkriegs) auch den fragwürdigen Umgang mit Obdachlosen, die restriktive Abtreibungspolitik und die Diskriminierung von Schwulen und Lesben anspricht.

An keinen Präsidenten der Welt wäre dieser Song momentan besser adressiert als an den russsischen Präsidenten Wladimir Putin.

Der Haupttext ist ein Auszug aus meinem Buch „Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en“ (WBG/THEISS 2019)

Schokopudding & Stagediving

Luftgitarrengott von Herbert Hirschler: ein aberwitziger Musikroman mit volkstümlichem Wumms

Wer liest schon James Joyce, wenn die Sonne auf den Balkon oder den Strandkorb knallt? Urlaubslektüre muss leichtgängig und süffig sein, mit gelegentlichem Tiefgang. Und wenn das Lesepublikum auch noch staunen, sich obendrein mal aufregen kann, umso besser. Für Musikfans könnte Herbert Hirschler die perfekte Urlaubslektüre geschrieben haben. Der Österreicher, der mehrere Hundert Texte für Songs aus den Bereichen Schlager und Volksmusik auf dem Gewissen hat, darunter einige große Erfolge, erzählt in seinem Romandebüt Luftgitarrengott die haarsträubende Geschichte der hochmusikalischen Geschwister Bastian und Lisa Berger aus einem Städtchen mit dem lustigen Namen Singing: er ein begnadeter Songwriter und Hobbykellerproduzent mit Gespür für Riesenhits, aber introvertiert, etwas naiv und von Gewichtsproblemen gebeutelt – sie eine hyperattraktive Rampensau mit Wahnsinnsstimme, aber hochneurotisch, exzessiv und gnadenlos durchtrieben. Zunächst planen die beiden noch, als Duo berühmt zu werden, dann ergreift Lisa die erste sich bietende Topchance beim Schopf, gibt Bastians Songs als die ihren aus und steigt als Songwriterin Lucy Hill zum international gefeierten Superstar auf. Und nicht nur das: Wann immer sich für Bastian, der mit seinen Kumpels lediglich in einer Kneipenband rockt und wenigstens ein paar Songwriting-Tantiemen kassiert, die Möglichkeit ergibt, selbst zum Star zu werden, ist Lisa zur Stelle und macht all seine Hoffnungen zunichte. Den Rest erledigen dumme Zufälle.

Interessant ist der Aufbau des Romans: Zentrale Figur und Sympathieträger ist Bastian, erzählt wird sein gesamtes Leben, und zwar in Zehnjahresschritten – von vor(!) der Geburt bis zu seinem 90. Geburtstag, von 1980 bis 2070. Stets werden die Ereignisse der letzten Dekade aufgerollt, dann dürfen wir im Detail erleben, wie Bastians nächster runder Geburtstag ruiniert wird, meist von seiner durchgeknallten Schwester. Als bis zum Äußersten strapazierter „Running Gag“ zieht sich Weiße Rosen aus Athen durch die Geschichte – jener Erfolgsschlager von Nana Mouskouri, den Bastian und Lisa als Kinder regelmäßig für ihre Tante Finni singen müssen, der sie dann ein Leben lang verfolgt, aber für Bastian sehr, sehr spät noch eine große Rolle spielen soll. Atempausen gibt es in dieser Tour de Force keine. Im Grunde ist Luftgitarrengott eine flott und lässig dahingeworfene Aneinanderreihung von familiären und karrieretechnischen Katastrophen: Da landet Schokopudding im Aquarium, da gehen Kircheninnenräume in Flammen auf und platzen Studiotermine auf die tragischste Weise. Am Ende erscheint auch noch eine uneheliche Tochter Lisas, die Bastian weiteres Ungemach bereitet. Von schrecklichen Stagediving-Unfällen ganz zu schweigen.

Nein, Herbert Hirschler ist kein Mann der zarten, leisen Töne, auch nicht der tiefschürfenden Figuren- oder eleganten, auf Plausibilität bedachten Plotentwicklung. Bei ihm muss es krachen, Logik ist zweitrangig, die Charaktere haben etwas Holzschnittartiges, wirken wie in die Jetztzeit gebeamte Figuren der Commedia dell’arte. Sein auktorialer Erzähler bleibt nicht immer sachlich, schon gar nicht politisch korrekt – und so gibt’s auch mal Seitenhiebe gegen Veganer und Pflegekräfte aus der Ukraine. Mit Lust werden Musikbranchenklischees bedient, das vorherrschende Stilmittel ist die Übertreibung, und manchmal menschelt es arg an der Schwelle zum Kitsch. Lisa erlebt Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg, Sex- und Drogenexzesse, vorübergehend landet sie in der Psychiatrie und wird sogar in einen halben Kriminalfall verwickelt. Bastian wiederum wird ob der vielen Misserfolge zum Alkoholiker, kann aber – unterstützt von seiner Frau Susi, einer wahren Lichtgestalt, und seiner Familie – die Sucht überwinden. Dass dieser talentierte Loser immer wieder mehr als vorhersehbar auf seine fiese Schwester hereinfällt und als trockener Alkoholiker sogar irgendwann aus Versehen eine ganze Flasche Whisky ex trinkt, weil er deren Inhalt für Apfelsaft hält, gehört zu den vielen Kapriolen der Story, die man auch mal schlucken muss.

Herbert Hirschler  (c) Gerald Tschank
Herbert Hirschler, Foto: (c) Gerald Tschank

Aber: Lässt man sich auf Hirschlers Holzhammerstil ein und begreift das Ganze als eine Art hippes Volkstheater, als derbe Musikposse, dann entwickelt der Roman nach und nach einen eigenartigen Sog. Und nicht selten erkennt man zwischen den Zeilen so etwas wie die Wahrheit. Es geht um die Absurdität unseres Daseins – und um die fragilen zwischenmenschlichen Bande, die am Ende doch alles zusammenhalten. So wie die Berger-Geschwister samt Kindern und Enkelkindern die Familientradition des ekstatischen Luftgitarrespielens perfektionieren, so treibt die Geschichte nach vielen Irrungen und Wirrungen plötzlich zielstrebig auf etwas Großes zu. Mit dem Effekt, dass man herrgottnochmal wissen will, wie das Ganze ausgeht. Und hier gelingt dem Autor auf den letzten 60 bis 80 Seiten ein geradezu herzzerreißendes Finale. In nicht wenigen Internet-Kundenrezensionen ist von ein paar Tränchen die Rede, die beim Lesen am Ende verdrückt wurden. Ein Effekt, den ich … ähm, räusper … bestätigen kann. Fazit: Luftgitarrengott ist ein sonderbarer Musikroman, der einen nicht kalt lässt – der unterhält, der rührt und hin und wieder enerviert. Ob’s ein Kultroman wird, muss die Zeit zeigen. Flotte Sonnenschirmlektüre ist er allemal.

Herbert Hirschler, Luftgitarrengott, 384 Seiten, Leykam 2021, 19 Euro (Taschenbuch)/14,90 Euro (Kindle)

Ein gedrucktes Denkmal für die elektronische (Club-)Musik

Das Corona-Desaster hat dramatische Entwicklungen beschleunigt, darunter auch diese: Die Techno-/House-getriebene Clubkultur ist historisch geworden. Zunehmend wehmütig und ergriffen vom jeweils eigenen fantastischen Beitrag beginnen DJ-, Booker-, Feier- und Medien-Persönlichkeiten, auf gut drei Jahrzehnte Rave & Roll zurückzublicken. Während man in Frankfurt am Main bald ein Museum of Modern Electronic Music (MOMEM) eröffnen will und mit „Electronic Germany“ schon einen Abriss der bundesrepublikanischen Technokultur vorgelegt hat, feiert „Blumenbar“, eine Marke des Berliner Aufbau Verlags, das 20-jährige Jubiläum von „Electronic Beats“ – der außergewöhnlichen Subkulturmarke des Telekom-Konzerns. „Electronic Beats“, Mitte März erschienen, entpuppt sich als schwergewichtiger Bild- und Essay-Band, der es in sich hat.

Für alle, die keine Lust auf längere Lesezeit haben, sondern einfach nur wissen wollen, ob das Buch meiner Meinung nach was taugt: Ja, es taugt was. Mit seinem raufasertapetenartigen Einband samt vieldeutiger Inschrift „Feelings aren’t final“ (Gefühle sind nicht endlich/endgültig/rechtskräftig) und dem teilweise starken Bildmaterial im Innenteil taugt es sogar zum eleganten Geschenk; aber natürlich sind es die Inhalte und die Leidenschaft für sein Thema, mit denen dieses Werk in erster Linie punktet. Als eigenwilliger Mix aus rauem Kunstband, schickem Coffeetable-Book und gehaltvollem Journalismus setzt „Electronic Beats“ der elektronischen (Club-)Musik ein gedrucktes Denkmal. Das kommt nicht ganz überraschend in einer Zeit, da Corona besiegelt, was sich vorher bereits abgezeichnet hatte: das vorläufige Ende einer Rave- und Clubkultur, wie sie in den Neunziger- und Zehnerjahren von Höhepunkt zu Höhepunkt eilte.

Die Marke „Electronic Beats“

Doch von vorn: „Electronic Beats“ ist kein irgendwie zufällig gewählter Buchtitel, sondern eine über 20 Jahre hinweg etablierte und gepflegte Marke. Dahinter steht, man glaubt es kaum, der Telekom-Konzern. Was im ersten Moment irritiert, folgt einer inneren Logik. Seit jeher versuchen große Konzerne, immer wieder neue und vor allem junge Zielgruppen zu erschließen. Und seit jeher bieten Lifestyle und Musik dafür gute Anknüpfungspunkte. Doch wo andere Unternehmen höchstens sponsern, eine Veranstaltung „präsentieren“ oder Stars für Promoaktionen gewinnen können, hat die Telekom spätestens seit Beginn der Digitalisierung und dem Siegeszug des Internets einen entscheidenden Vorteil: Sie war und ist unmittelbar in den popmusikalischen Austausch involviert. Wann immer räumlich getrennte Künstler:innen sich gegenseitig Soundfiles zwecks Komposition von Tracks zuschicken, wann immer Websites auf- und Podcasts abgerufen, Songs gestreamt oder Livekonzerte via Internet übertragen werden, liefert der deutsche Telekommunikationsriese die nötige Infrastruktur: Musik als Träger von Ideen – die Telekom als Trägerin von Musik. Was lag da näher, als selbst eine popkulturelle Marke ins Leben zu rufen, die sich vor allem auf elektronische Musik konzentriert: „Electronic Beats“ war geboren.

Die große Leistung der Telekom, über die man als kleiner Festnetz- oder Mobil-Kunde ja gern mal flucht, bestand nun darin, einen im Grunde simplen, aber oft ignorierten Sachverhalt zu beherzigen: Nichts ist wertvoller als Glaubwürdigkeit. Und so holte man kompetente Leute aus der Szene ins Boot, statt rasch ein seelenloses Marketingprodukt in die Welt zu setzen und die Zielgruppe noch rascher zu vergraulen: Musikjournalist:innen, DJs, Booker:innen oder Designfreaks, kurz: renommierte kreative Köpfe aller Disziplinen schlugen bei dem Branchengiganten auf und durften, tatsächlich, einfach machen. So nahmen unter dem Label „Electronic Beats“ fundierte DVD-Musikmagazine, Printmagazine, Festivals, eine Onlineplattform, Podcasts, virtuelle Konzerte oder ein Youtube-Kanal schillernde Gestalt an. Wo es kaum ästhetische oder inhaltliche Beschränkungen zu geben scheint, entsteht Raum zum Experimentieren, auch mal zum Scheitern oder zum Über-die-Stränge-Schlagen. Und so genießt „Electronic Beats“ bis heute ein hohes Maß an Credibility in der Szene. Die Angebote werden von den Fans genutzt, und nicht nur Underground-Helden wie Peaches, Carl Craig oder Hercules and Love Affair, auch Topstars von Gorillaz bis Billie Eilish, von Underworld bis The Prodigy gingen schon für die Telekom-Marke auf die Bühne. Entsprechende Festivals expandierten dann zunehmend nach Osteuropa, wo die Ravekultur auch Minderheiten, etwa der LGBT-Szene, die Möglichkeit bietet, sich auszudrücken, also verstärkt politische Kraft entwickelt. Diversität wird bei den Macher:innen von „Electronic Beats“ großgeschrieben – es ist in der Tat eine verwegene, zukunftsorientierte Marke, die der Kommunikationskonzern da unter seinem Dach hat erblühen lassen.

Kluger, abwechslungsreicher Mix

Nun könnte man erwarten, dass der Jubiläumsband zum 20-jährigen Bestehen ganz auf aufwendig gemachte Selbstbeweihräucherung setzt. Aber nichts da. Statt bunter Bildchen, gut abgehangener Porträts und euphorischer Rückblicke präsentiert das Buch einen klugen, abwechslungsreichen Mix aus Szene-Interviews, ungewöhnlichen Reportagen, taffen Gesprächsrunden und tiefschürfenden Essays. Dabei begibt er sich häufiger auf so etwas wie die Metaebene, um dem Lesepublikum Erkenntnisgewinn zu vermitteln. Letztlich bekommt man einen Eindruck davon, wie die Rave- und Clubszene tickt, was die Faszination des Auflegens, die Faszination des Kontrollverlusts beim Tanzen ausmacht, wie elektronische Beats musikhistorisch einzuordnen sind, welche Synthesen sie mit Computergames eingehen, sogar welchen Zwängen die mediale Berichterstattung über Clubkultur ausgesetzt ist und wie es nach der Corona-Pandemie weitergehen könnte. Es ist ein mit Herz und Verstand zusammengestellter Rundumschlag, der Interessierten die Augen öffnet und selbst Insidern noch einiges an interessanten Informationen bieten dürfte.

Zu Beginn erzählt eine geschickte Collage aus O-Tönen der Macher:innen, wie sich das „Electronic Beats“-Universum Schritt für Schritt entwickelt hat. Für gute Laune sorgt ein Elder-Statesman-Talk zwischen Bryan Ferry und Dieter Meier (Yello), bevor zwei unkonventionelle Reportagen nachdenkliche Akzente setzen: In Kalabrien gibt es unter dem Stichwort „Tarantella“ rituelle Lieder und vor allem Tänze, in denen Mitglieder krimineller Banden miteinander kommunizieren, auch Konflikte austragen. So etwas liest man nicht jeden Tag … Im repressiven Georgien wiederum hat sich ein wegen eines Bagatelldelikts verurteilter DJ und Veranstalter im Knast zu einem Producer entwickelt. Ein dezidiertes Musikkapitel beleuchtet unter anderem die interessante Geschichte der Drum Machine und nennt Pionierinnen der elektronischen Musik: Namen und Zusammenhänge, die zum Weiterrecherchieren anregen. Schauspieler Lars Eidinger wird dann auch noch interviewt, und ja, das ergibt Sinn – ist er doch selbst als DJ aktiv und genießt wegen seiner schrägen Auftritte in Musikvideos von Deichkind zusätzlichen Kultstatus. Allerdings: So wunderbar Eidinger spielt, so spätpubertär wirkt manches, was er jenseits von Bühne und Filmset von sich gibt. Das Gespräch mit „Electronic Beats“ ist einigermaßen informativ und erträglich, doch auch hier macht er selbstverliebt auf „Ich bin anders, ja beinahe selbst ein Kunstwerk“. Zitat: „Mir macht es am meisten Spaß, erst beim Reden Gedanken überhaupt zu verfassen. Ich fordere mich dabei selbst – und hatte schon immer Freude daran, mal die genaue Gegenposition einzunehmen von dem, was ich eigentlich denke. (…) Ich bewundere diejenigen, die im Lauf eines Gesprächs ihre Meinung ändern.“ Ach, Lars … Wie bodenständig und berührend sind dagegen die an anderer Stelle im Buch wiedergegebenen Erinnerungen von Ellen Allien oder die Aussagen und Lebensgeschichten einer Barfrau, eines Hausmeisters, eines künstlerischen Leiters und anderer Club-Persönlichkeiten, die von Heimatverlust und Existenzangst im Angesicht der Corona-Pandemie erzählen.

Starke Marken, starker Druck

Wieder aufschlussreicher wird es im Kapitel „Marken“: Wir erfahren, dass und warum klassische Musik-Labels an Bedeutung verloren haben; dass auch moderne Protestbewegungen wie „Fridays for Future“ und „Black Lives Matter“ als starke Marken funktionieren, obwohl ihre Repräsentant:innen das selten so sehen wollen; und dass selbst Superstar Beyoncé bei allen Ansätzen zum Ausverkauf einen Hauch an feministischer Inspiration ins Publikum rettet. Wie aufrechte Journalist:innen und Musikmedien bei sinkenden Reichweiten und geringeren Verdienstmöglichkeiten damit umgehen, dass große Unternehmen den PR-Druck erhöhen, erörtert eine spannende Diskussionsrunde, auch vor dem Hintergrund, dass heute via „Social Media“ praktisch jede:r als Medium senden kann – dass wir zu so etwas wie einer „redaktionellen Gesellschaft“ mutieren.

Daran knüpft nahtlos das Kapitel über Vernetzung und Kommunikation an. Die Ravekultur in Osteuropa als befreiender, als politischer Akt ist ein ebenso spannendes Thema wie der Aufstieg der Rapmusik an den herkömmlichen Medien vorbei. Nach dem Lesen dieses Beitrags versteht man etwas besser, wieso Gangsta-Rap regelmäßig an der Spitze der Charts rangiert, ohne dass das fragwürdige Zeug im Radio läuft. Von Honey Dijon hatte ich persönlich noch nie etwas gehört, ein von schicken Schwarz-Weiß-Porträts begleitetes Gespräch weckt aber Interesse an den Clubsounds und dem politischen Engagement des Transgender-Stars. „Wie die Musik aufs Handy kam“, „Vernetzte Musikproduktion“ und „Vom Buchdruck zum Stream“, das sind selbsterklärende Titel für lehrreiche Essays, die den historisch-theoretischen Background beleuchten und zeigen, welchen Veränderungen die Musik der letzten 20 Jahre unterworfen war.

Räume für die Zukunft

Den Aspekt des radikalen Wandels spinnt dann auch das letzte Buchkapitel „Räume“ weiter. Unter anderem erörtert es ein faszinierendes  Konzertevent im Rahmen einer Fantasy-Computerspielwelt: Im April 2020 ließ Rapper Travis Scott tatsächlich seinen Avatar live im Rahmen des Onlinespiels „Fortnite“ auftreten, inklusive Präsentation eines neuen Tracks. Sage und schreibe 27,7 Millionen Menschen schauten zu, einfach unglaublich. Astronomical, noch heute auf Youtube zu bewundern, lässt erahnen, was im nächsten Jahrzehnt an weiteren verrückten Musikentwicklungen auf uns zukommen könnte. Skeptisch war ich bei einem Beitrag über Clubs als Kirchen von heute – der Text der aktuellen „Electronic Beats“-Chefredakteurin Whitney Wei stellt dann allerdings erstaunliche Bezüge und Assoziationen her. Damit unterstreicht er, was gerade durch Corona verloren geht. Werden sich nach der Pandemie die Gagen-Exzesse der letzten Jahre erledigt haben? Werden die Line-ups in Clubs regionaler? Und inwieweit wird die Clubkultur überhaupt überleben? Das sind Fragen, die eine abschließende Gesprächsrunde erörtert. Und dann ist der letzte Track verklungen. Das Licht geht an, wir müssen zurück in den Alltag. Ein schwermütiger, aber ehrlicher Kehraus.

„Keine Serendipität …“

Es sind der Mut zu unkonventionellen Ansichten, ein Bewusstsein für historische Kontexte, fundiertes Expert:innenwissen und eine klare politische Haltung, die dieses Buch so lesenswert machen. „Electronic Beats“ kommt mit einer Ernsthaftigkeit daher, die beeindruckt. Genau diese Ernsthaftigkeit aber, und damit sind wir bei den Schwachpunkten aus meiner Sicht, wirkt ab und an befremdend. In anderen Worten: Nur Bryan Ferry und Dieter Meier dürften dem Lesepublikum ein Schmunzeln entlocken, der Rest ist komplett humorfrei. Wo bleibt der Spaß? Und: Vielleicht hätte hier und da auch ein Schuss Selbstironie gutgetan. Dahinter, so mein Eindruck, steht das Bemühen, der elektronischen (Club-)Musik höhere Weihen angedeihen zu lassen, sie als würdigen Gegenstand akademischer Forschung zu etablieren. Vielleicht auch Stolz und das Bedürfnis, dem Auftraggeber gegenüber die eigene Daseinsberechtigung zu formulieren. À la: Ihr könnt sicher sein: Ihr finanziert da eine total wichtige Sache, ihr finanziert Hochkultur! Fun und Rausch, aber leider auch die Begleiterscheinung, dass man es in der Clubkultur gelegentlich mit einfach nur zugedröhnten jungen Menschen zu tun hat, werden da möglicherweise bewusst ausgeblendet. „Dass ausgerechnet der ehemalige Staatskonzern Telekom mit Electronic Beats eine der zentralen Plattformen der elektronischen Musikkultur etabliert hat, ist keine Serendipität und zugleich eine Geschichte voller interessanter Wendungen und glücklicher Entscheidungen“, schwelgt Ji-Hun Kim, Ex-Chefredakteur von „De:Bug“ und Redaktionsleiter „Das Filter“, im Vorwort. Als verantwortlicher Konzeptioner und Redakteur des „Electronic Beats“-Jubiläumbandes feiert er am Ende des kurzen Texts „das Entwickeln neuer Narrative und auch das persistente Führen aktueller Debatten“. Holla! Ich habe das Große Latinum und, hey, ein Studium absolviert, aber das Wort „Serendipität“ musste ich nachschauen. Es bedeutet „Zufälligkeit“. Wie banal. Mit Blick auf den schillernden Gegenstand von „Electronic Beats“ und die abgebildete Partyszene wirkt das Wort ebenso fehl am Platz wie das Geschwurbel um Narrative und persistente, sprich: anhaltende Debatten. Da schwört die Redaktion Stein und Bein auf Diversität und Gleichberechtigung, erhebt sich aber gerade sprachlich klar über das Durchschnitts-Clubpublikum. Bestimmt keine Absicht, aber auch eine Form von Ausgrenzung.

Richtig problematisch wird das bei Jens Gerrit Papenburg, seines Zeichens Professor für Musikwissenschaft und Sound Studies. Eigentlich beackert er in seinem Essay „Bewirtschaftung der Zukunft“ ein spannendes Thema, nämlich die Art und Weise, wie Big Data, Streamingdienste, Empfehlungsalgorithmen und aktive Kopfhörer unseren Musikkonsum verändern. Was er dann aber auf vielen Buchseiten über sogenanntes „Soundfilehören“ zu Papier bringt, ist anstrengendster elitärer Wissenschaftsjargon, hinter dem das Thema buchstäblich verpufft. Kostprobe: „Eine Bewirtschaftung des Musikhörens begreift das Hören als Ressource und als ökonomisches Problem. Als Ressource soll es exploriert werden, dabei aber nicht nur als Bestandteil einer vordergründigen Aufmerksamkeitsökonomie nutzbar gemacht werden. Zudem sollen die Ohren auch für die affektiven Hintergründe sensibilisiert werden. Jedoch umfasst Bewirtschaftung neben Ökonomisierung immer auch eine zweite Hälfte: die Kultivierung respektive Kulturalisierung. (…) Eine Bewirtschaftung des Hörens umfasst neben Ökonomie und Medien immer auch schon Kultur und Ästhetik.“ Uffz … Vielleicht lassen sich mit Texten dieser Art wissenschaftliche Fachpublikationen erfolgreich bewirtschaften – für „Electronic Beats“ hätte Papenburg seine Thesen in verständliche Sätze kleiden sollen.

Publikumsnäher, dafür ohne wirklichen roten Faden kommt ein Text des DJs, Label-Betreibers und Producers Daniel Wang daher. Wang versucht sich an einem „Plädoyer gegen das Mittelmaß auf dem Dancefloor“ und hat eigentlich im Spitztitel schon alles gesagt. Beim Versuch „die Evolution der populären Musik“ nachzuzeichnen, verzettelt sich der ansonsten sehr sympathisch wirkende Fachmann gehörig zwischen Trio, Wagner, Fela Kuti und YMCA. Das wirkt vor allem prätentiös, erst recht mit Blick auf die simple Message seines Beitrags: Mehr Musikalität, mehr Qualität in der Dance-Musik bitte! Der Wunsch nach einer strenger redigierenden Hand drängt sich schließlich auch beim Lesen des Interviews mit Billie Eilish auf. Klar haben wir es mit einer hochbegabten Teenage-Künstlerin zu tun – aber man muss dem Gespräch doch nicht diesen blödsinnigen BRAVO-/Onkel-Touch geben. „Wie geht es dir? Was machst du im Moment? Was sind die Namen deiner Welpen? Was war die beste Entscheidung, die du in deiner Karriere getroffen hast? Hast du konkrete Ziele oder Träume, denen du nacheiferst? Vielleicht sollten mehr Leute Pitbulls adoptieren?“ Derek Opperman stellt tatsächlich diese Fragen: Wo Herr Papenburg eine lupenreine Überperformance liefert, erreicht er unterirdisches Niveau.

Let’s talk about Handwerk

Das war’s aber auch schon an Beiträgen, die mich irritiert haben. Drei Ausrutscher? Auf 300 Seiten eine verschwindend geringe Zahl! Bleiben ein paar handwerkliche Dinge, die ich nicht schön finde, die aber letztlich zu verkraften sind: die fehlenden Porträts der Gesprächsrundenteilnehmer:innen – man würde doch gern auch mal sehen, wer da spricht; Doppelseiten, die nur aus Text bestehen und beim Lesen ermüden; gelegentlich weiße Schrift auf pechschwarzem oder leuchtend rotem Untergrund, eine Belastung für die Augen; schwarze Bildunterschriften über quietschbunten Fotos, nur durch Zufall zu erkennen – das hätte man von den renommierten Designern Meiré und Meiré nicht erwartet; und überraschend viele Kommafehler, der eine oder andere vertrackte Satz – bezeichnenderweise sind Lektor:innen im Impressum nicht aufgeführt. Dabei sind sie extrem wichtig für eine Buchproduktion, und auch sie brauchen Aufträge. In Corona-Zeiten mehr denn je.

Letzter Kritikpunkt: die auffällige Hauptstadtlastigkeit. Über die gesamte „Electronic Beats“-Produktpalette hinweg mag das anders sein, aber im Jubiläumsband wird sie spürbar. Die überwiegende Zahl der Mitwirkenden „lebt“ oder „lebt und arbeitet in Berlin“, großen Raum nimmt die dortige Szene ein, zum Beispiel der „Tresor“. Wenn aus dem Rest der Republik lediglich ein Augsburger Club oder das Offenbacher Housejuwel „Robert Johnson“ hier und da erwähnt werden, ansonsten London, Chicago oder New York und eben Berlin als „Electronic Beats“-Zentren erscheinen, muss man als Frankfurter schon mal schmunzeln. In der Mainmetrole, die einen nicht unbedeutenden Beitrag zur globalen Clubkultur der letzten 30 Jahre geleistet hat, entsteht gerade das MOMEM – das Museum of Modern Electronic Music –, und aus der Mainmetropole hat vor nicht allzu langer Zeit Christian Arndt die ebenfalls monumentale Buchveröffentlichung „Electronic Germany“ in die Welt geschickt. Weniger theoretisch, eher dokumentarisch, letztlich offener. Aber lassen wir das, über Blasen und den leichten Hang zum Nerdtum sollen andere urteilen. Feiern wir lieber die vielen anregenden, lehrreichen, erhellenden und beeindruckenden Seiten dieses Buchs, das in Anbetracht der Qualität, die es bietet, einen mehr als fairen Preis verlangt. 4 von 5 Sternen, 8 von 10 Punkten, 4 to the floor!

Electronic Beats
Hg. Deutsche Telekom AG
Leinen, 304 Seiten
Blumenbar
978-3-351-05088-7
34,00 €

Wiener Artpop vom Feinsten

LIENER – ein neuer Stern am österreichischen Pophimmel

Mannomann, so viel tolle Popmusik, die da aus Österreich zu uns herüberschwappt, und das schon seit Jahren. Aus allen Genres kommen die Künstler, und in allen Genres leisten sie Bemerkenswertes: Bands wie Mynth, Julian und der Fux, Erwin & Edwin, Ja, Panik, Cari Cari, Kreisky, Wiener Blond oder das Erste Wiener Heimorgelorchester. Von Wanda und Bilderbuch, den nach wie vor berühmtesten Gegenwarts-Acts aus Österreich, ganz zu schweigen. Als besonders reizvoll erweisen sich diese Austropopper, wenn sie in deutscher Sprache singen und mit ihr spielen. Das klingt mal bodenständig sinnlich wie bei Wanda („Tante Cecarelli hat in Bologna Amore gemacht – Bologna, meine Stadt“), nach gehobenem Nonsense wie beim Ersten Wiener Heimorgelorchester („Die Letten werden die Esten sein“) oder schwarzromantisch surreal wie bei Bilderbuch: „Es tropft dein feuchter Blick auf mein Verlangen / Sieben Sünden, alle auf einmal begangen.“

Moderner Bänkelsang oder abgründiger Schlager, rockiger Schmäh oder schlüpfriger Chanson, Metarap oder morbide Moritat – Österreich bringt immer neue Aushängeschilder des gehobenen Popwahnsinns hervor. Und gerade geht der nächste Stern an diesem eigenartigen wie -willigen Musikhimmel auf. Die Rede ist von LIENER, dem Soloprojekt von Matthias Liener. Der ist Mitglied einer Band namens Die 4 Spritbuam, außerdem singt er in verschiedenen Chören. Rosen und Mohn heißt die gerade erschienene Debüt-Single, und die wirft große Schatten auf ein hoffentlich bald erscheinendes Album voraus. „Oida, bist du deppat?“, tönt es programmatisch gleich zu Beginn, dann groovt es knarzend elektronisch los, mit ungewöhnlichen Harmonien, seltsamen Sound- und noch seltsameren Vokaleffekten. Kein Wunder, Liener war mal bei den Wiener Sängerknaben und steht auf Queen. Was außerdem der Grund dafür sein mag, dass mitten in die voyeuristisch-versauten Fantasien und bohrend-schlüpfrigen Fragen, die das durchgeknallte Song-Ich an eine Dame namens Anna richtet, eine Art Juristen-Chor hineingrätscht: „Und geloben Sie, die Wahrheit zu sagen, die reine Wahrheit.“

Der Song ist schräg und hochartifiziell, trotzdem eingängig, das ist das Kunstvolle daran. Mal scheint man Falco zu hören, mal werden – „Sag mir quando, sag mir, Anna, sag mir wann“ – alte Schlager-Schmonzetten zitiert. In Verbindung mit Versen wie „Ich kann deine Unterhose unter deiner Hose seh’n“ und „Ich kann eine kleine Rose unter deiner Hose seh’n, eine kleine feine, eine schöne reine …“ ergibt das seltsame Verfremdungseffekte. Rosen und Mohn, das ist Liebe und Rausch – als überhöhtes Konzept wie als Verheißung, die sich aber für das Song-Ich eher nicht erfüllen wird. Spricht hier tatsächlich ein schmieriger, sexuell verklemmter Nerd? Sprechen hier vielleicht sogar verschiedene Figuren, und ist es Anna, die ihrem sabbernden Verehrer ein „Bist du bescheuert?“ an den Kopf wirft? Oder ist das Ganze nur ein abstraktes Spiel mit Textsorten und Lovesong-Klischees? Man weiß es nicht genau. Ist aber auch egal. Denn es gibt ja so viel zu entdecken in diesem kleinen musikalischen Geniestreich, der mit augenzwinkerndem Pathos aufwartet und auch beim Drumherum besondere Akzente setzt. So wird die Anna aus dem Song im Video verkörpert von Caroline Perron, als Sängerin, Model und letzte Lebenspartnerin von Falco eng verbunden mit Österreichs Popszene.

Bei so viel Glamour und schwelgerischer Künstlichkeit mag man kaum glauben, dass es schon vereinzelte Stimmen gegeben haben soll, die das Frauenbild des Songs kritisieren. „Ja bist du dann deppat, Oida?“, möchte man gleich mit LIENER erwidern: Wenn es hier überhaupt um so etwas wie Männer- und Frauenbilder geht, dann wird doch eher ein fragwürdiges Männerbild vorgeführt als ein negatives Frauenbild gezeichnet, oder? Und: Erinnert Herr Liener im Video nicht an den Psychoanalytiker Sigmund Freud, der obendrein gelegentlich selbst auf der Couch liegt? Mit solchen Hintersinnigkeiten und lustvoll eröffneten Abgründen, die sich natürlich auch auf der musikalischen Ebene wiederfinden, rangiert LIENER viel näher an Bands wie den Sparks und Les Rita Mitsouko als an irgendwelchen Singer/Songwritern, die uns eine authentische Nabelschau vorgaukeln. LIENER ist kraftvoller Wiener Artpop vom Feinsten. Insider munkeln, dass dahingehende Erwartungen auch von kommenden Songs des Künstlers mehr als erfüllt werden. Um mit Peter Fox zu sprechen: Wenn ich so dran denke, kann ich’s eigentlich kaum erwarten!