Meine Mutter lernte mich zu sagen…

Neulich ging es an dieser Stelle um die Unfähigkeit, sprachlich korrekt zu texten. Diese Unfähigkeit ist natürlich dann am offenkundigsten, wenn man sich in einer anderen als der Muttersprache versucht. Das fiel mir kürzlich wieder auf, als ich im Radio die guten alten Lords aus Berlin hörte, in den 1960er Jahren eine der erfolgreichsten deutschen Antworten auf die Beatles. Die Lords coverten damals viele britische Originalhits, versuchten sich aber immer wieder auch an Eigenkompositionen. Dabei gingen sie musikalisch gar nicht mal schlecht zu Werke, bewiesen ein feines Gefühl für beattypische Riffs, Akkordwechsel und Melodien. Aber was sie textlich ablieferten, war oft nur aus Versatzstücken zusammengestoppelt, und das nicht selten in fehlerhaftem Englisch.

Ein einschlägiges Beispiel ist ihr Hit Poor Boy aus dem Jahr 1965. Die erste Strophe und der Refrain des Songs lauten tatsächlich: „When I was born, you know / I couldn’t speak and go / My mother worked each day / And she learned me to say / Mother and father and son, / Sister and uncle have fun / And she learned me to say / Life is so hard each day // Poor boy, you must know / Poor boy the life is hard to go / Poor boy, poor boy, you might say / Life is very hard to stay.“

Das ist natürlich ein wunderbarer Schmunzeltext. Denn die Phrase „She learned me to say“, die eine Mutter an ihren Sohn richtet, ist wunderbares Denglisch, übersetzt heißt sie: „Sie lernte mich zu sagen“, wo doch „Sie lehrte mich zu sagen“, englisch: „She taught me to say“, korrekt gewesen wäre. „The life is hard to go“ ist eine weitere herrlich verhunzte Phrase, zum einen weil hier „life“ fälschlicherweise mit dem Artikel „the“ versehen ist, zum anderen weil „life is hard to go“ kaum Sinn ergibt. Vielleicht ging es darum, dass der Weg des Lebens nicht leicht zu gehen ist, aber das hätte man auch so oder ähnlich ausdrücken können. „Armer Junge, das Leben ist hart“, scheinen uns die Lords im Großen und Ganzen vermitteln zu wollen, doch verstellen sie diese Aussage zusätzlich durch banalste Feststellungen wie: „Als ich geboren wurde, konnte ich weder sprechen noch gehen“ (in den englischsprachigen Lyrics „I couldn’t speak and go“, wo „talk or walk“ angebrachter gewesen wäre) und groteske Einschübe à la: „Mutter, Vater, Sohn, Schwester und Onkel haben Spaß.“

Ja, das Leben ist hart zu bleiben – dieser sinnfreie Schlusssatz setzt dem textlich sowieso schon verhunzten Refrain noch die Krone auf. Angesichts solcher sprachlicher Klöpse wundert man sich nicht, wenn man bei Wikipedia liest, dass Klaus-Peter „Lord Leo“ Lietz den Song in gerade mal drei Stunden zusammengefrickelt haben soll.

Allerdings lässt sich über den unfreiwilligen Unterhaltungswert hinaus auch eine Erkenntnis aus solchen sprachlichen Irritationen, Unsauberkeiten und Ungereimtheiten in Songtexten mitnehmen: nämlich dass Lyrics nicht etwa unmittelbarer Ausdruck der Gefühle einer Autorin oder eines Autors, sondern etwas Künstliches, Konstruiertes sind. Wie im Kino, wenn der Ton zu leise, das Bild unscharf ist oder der Filmstreifen reißt, wird auch in Lyrics durch grobe sprachliche Unregelmäßigkeiten die Illusion gestört. Man wird aus der Gedanken- und Gefühlswelt, in die man gerade eingetaucht war, mehr oder minder unsanft herausgerissen. Und das sagt gleichzeitig etwas über das Verhältnis zwischen dem Song-Ich und dem biografischen Ich der Autorin oder des Autors aus. Natürlich kann es eine große Nähe zwischen beiden Polen geben, aber die künstlerische Überformung mit all ihren Verfremdungseffekten und Fallstricken sorgt auch für eine grundsätzliche Distanz.

 

Dass es hin und wieder selbst in deutschsprachigen Lyrics deutscher Songwriter knirscht und wie andererseits sprachliche Ungereimtheiten ganz gezielt sinnstiftend eingesetzt werden können, erörtere ich ausführlicher in meinem aktuellen Beitrag für die Reihe „Pop-Splitter“ auf Faust-Kultur:

 

 

Werber in der analen Phase

Songs werden gern als Allzweckwaffen missbraucht. Besonders gern nehmen Marketingleute sie zur Untermalung von Werbespots. Aus einem klassischen Lovesong wird dann eine Hommage an ein bestimmtes Automodell, aus einer Ode an die Jugend die Hymne für eine Anti-Aging-Creme. Okay… Aber manche Songs werden derart unglücklich eingesetzt, dass der Spot eigentlich nach hinten losgehen müsste. Nehmen wir Unbelievable, den supereingängigen Dancerock-Track der britischen Gruppe EMF aus dem Jahr 1990. Der Refrain mit dem Ausruf „Unglaublich!“, „Unbelievable!“, soll in dem Werbeclip, den er untermalt, einen schicken Sportwagen charakterisieren, natürlich im positiven Sinne. Dabei meint der Ausruf im deprimierenden Songkontext genau das Gegenteil, etwa im Sinne von: „Du bist so mies zu mir, es ist einfach unglaublich!“ Wer’s nicht glaubt, der höre selber nach.

Ganz anders lag der Fall bei Ring of Fire, einem der größten Hits des amerikanischen Countrysängers Johnny Cash. Hier wollten Werber den Text ganz bewusst in einen provokanten neuen Kontext stellen. Aber von vorn: Der 1962 erschienene Song handelt ganz offensichtlich von einer Liebesbeziehung. Ein Liebender bekundet seine leidenschaftliche Zuneigung, die er in das Bild eines lodernden Feuers kleidet. So heißt es in der zweiten Strophe: „The taste of love is sweet / When hearts like ours meet / I fell for you like a child / Oh, but the fire ran wild.“ – Übersetzt etwa: „Liebe schmeckt süß, / wenn zwei Herzen wie die unseren aufeinandertreffen. / Ich verfiel dir wie ein Kind, / oh, aber das Feuer loderte wild.“ Der Refrain, den auch heute noch fast jeder mitsingen kann, lautet: „I fell into a burnin’ ring of fire / I went down, down, down / And the flames went higher / And it burns, burns, burns, / The ring of fire, the ring of fire.“ Also: „Ich fiel in einen brennenden Ring aus Feuer. / Ich ging in die Knie, / und die Flammen schlugen höher. / Und er brennt, brennt, brennt, / der Ring aus Feuer, der Ring aus Feuer.“ Man kann nach autobiografischen Bezügen im Leben Johnny Cashs suchen oder einen spirituellen Gehalt in den Versen entdecken. Man kann das Feuer einfach als Leidenschaft deuten, aber auch im Sinne der Qualen, die Liebende zu durchleiden haben. Dass „Ring of Fire“ sowohl der geografische Begriff für einen Vulkangürtel im Pazifik als auch der Name eines Trinkspiels ist, das mit Karten gespielt wird, mag dabei jeweils zur Deutung der Metaphorik herangezogen werden. Stets aber beschreibt der Song eine äußerst innige Beziehung zwischen dem Ich und dem angesprochenen Du.

Dennoch war sich die amerikanische Texterin Sula Miller im Jahr 2004 nicht zu blöd, Ring of Fire ausgerechnet als Untermalung eines Werbespots für ein Medikament gegen Hämorrhoiden ins Visier zu nehmen. Den in den Versen besungenen Ring aus Feuer in vollster Absicht als entzündeten Schließmuskel zu interpretieren, das ging allerdings der Familie des ein Jahr zuvor verstorbenen Sängers zu weit. „Die Hinterbliebenen der Country-Ikone haben sich jedenfalls festgelegt, was die Interpretation des Songtextes betrifft“, schrieb SPIEGEL Online damals in einem Artikel über den Fall. „Es gehe um die gestalterische Kraft der Liebe. Etwas anderes werde er für die Familie niemals bedeuten.“ Weshalb der Welt die Umsetzung dieser hirnrissigen Idee letztlich erspart blieb. Eine Songmisshandlung der übleren Sorte bleibt die Attacke von Sula Miller trotzdem – zumal sie dem Klassiker noch heute unangenehm anhaftet und mitverantwortlich sein könnte für die Verbreitung einer weiteren Schwachsinnsthese: Nach wie vor stößt man im Internet auf Songportalen und in Chatforen auf die Mutmaßung, Ring of Fire handele von Analsex.

Diese und weitere Songmisshandlungen in meiner Essayreihe „What have they done to my song?“ auf http://faustkultur.de/, direkter Link:
http://faustkultur.de/kategorie/musiktheaterfilm/behrendt-what-have-they-done-to-my-song-v.html#.UVWHKhkcVEs

 

 

Das Spuk-„Haus am See“

Eigentlich ist das von Peter Fox beschworene Haus am See ein Sehnsuchtsort. Ein Ort, den viele gern erreichen würden und an dem man sich einfach wohlfühlen sollte. Doch irgendwie will dieses Haus nicht zur Ruhe kommen. Aktuell sorgt Heino für Unruhe in den Gemäuern. Der nicht mehr ganz taufrische Volksbarde hat sich einfach der Schlüssel bemächtigt und das Haus am See auf seinem mitunter gespenstisch anmutenden neuen Album Mit freundlichen Grüßen hier und da renoviert. Jetzt wirkt die kleine, feine Herberge wie eine rustikale Almhütte mit Kuhglockengebimmel im Hintergrund. Die Soundspitzen des Originals wurden eliminiert, der herrlich schnoddrige Gesang von Peter Fox durch inbrünstiges Jubilieren mit angedeuteten Seufzern ersetzt – so könnte sich letztlich auch ein Florian-Silbereisen-Fan eingeladen fühlen.

Aber seien wir ehrlich: Ein bisschen kann man auch grinsen bei dieser Coverversion – hat doch Heino mit seinem – Untertitel! – „Verbotenen Album“ insgesamt einen unverschämt frechen Überraschungscoup gelandet. Den Inhalt muss man nicht mögen, aber die Verpackung ist erste Sahne! Viel ärgerlicher finde ich das, was das Kölner rheingold Institut für qualitative Markt- und Medienanalysen 2010 mit Haus am See angestellt hat. „Die Absturz-Panik der Generation Biedermeier“ hieß damals eine von IKEA Deutschland finanziell unterstützte Jugendstudie des Instituts, in der der Peter-Fox-Song auf fragwürdige Weise vereinnahmt wurde. Hinter der Studie standen durchaus kluge Köpfe. So gehörten zum rheingold-Analyseteam der Diplom-Psychologe Stephan Grünewald, Autor von „Deutschland auf der Couch“, der Diplom-Psychologe Frank Quiring sowie die Diplom-Psychologinnen Jasmin Volk und Stephanie Morzinek. Um die Studien-Supervision kümmerten sich ein Herr Prof. Wilhelm Salber und ein Dr. Wolfram Domke.

In seiner Pressemitteilung vom September 2010 fasste das Institut die Ergebnisse mit folgenden Worten zusammen: „Die Jugend 2010 gibt ein verblüffendes Bild ab. Sie präsentiert sich sehr erwachsen, kontrolliert und vernünftig. Zielstrebig will sie ihren eigenen Weg finden. Dabei stehen Bildung, Karriere und ein hoffentlich gutes Einkommen hoch im Kurs. Eine große Anpassungs-Bereitschaft, persönliche Beweglichkeit und Pflichtbewusstsein werden ebenso als Garanten eines erfolgreichen bzw. abgesicherten Lebens angesehen, wie ein breites Kompetenz-Spektrum. Die Lebensentwürfe der jungen Menschen sind von klaren und vor allem erreichbaren Zielen bestimmt. Dabei scheint in diesen Entwürfen immer eine Biedermeierwelt durch, in der das zentrale Lebensziel darin besteht, ein kleines Haus mit Garten oder eine Eigentumswohnung zu besitzen. Bewohnt mit der eigenen Familie, den (beiden) Kindern und dem Hund.“

Dagegen war erst mal nichts einzuwenden. Schließlich hatten die Forscher 100 zweistündige psychologische Tiefeninterviews mit Jugendlichen zwischen 18 und 24 Jahren aus verschiedenen Gesellschaftsschichten durchgeführt. Doch dann kamen zwei Sätze, die Musikfreunde aufhorchen ließen: „Das Lied von Peter Fox über das ‚Haus am See’ ist daher eine Hymne an ein beschauliches Leben, in dem man endgültig angekommen ist, sich niedergelassen hat und sich im Kreise der Familie wohlfühlt. Zuhause will man sich gemütlich einrichten und Geborgenheit erfahren – möglichst mit einem verlässlichen und treuen Partner, an den man sich fest bindet.“

Peter Fox das Sprachrohr eines neuen jugendlichen Biedermeiertums? Haus am See die Hymne an ein beschauliches Leben im Kreise der Familie? Das muss man erst einmal verdauen. Immerhin ist Fox Mitglied der weitgereisten Berliner Reggae- und Dancehall-Band Seeed, die die deutschsprachige Musikszene zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit heißen karibischen Rhythmen und originell-provokanten, teils anzüglichen Texten aufmischte. Und Haus am See, diesen wunderbar dahinfließenden Song mit seinen originellen Sound-Akzenten und dem ironischen Frauenchor, hatte man doch immer ganz anders verstanden… Okay, in zwei Versen des Refrains klingt so etwas wie ein beschauliches Leben an: „Und am Ende der Straße steht ein Haus am See (…) Alle komm’n vorbei, ich brauch nie rauszugehn.“ Aber der Rest ist doch alles andere als das Zelebrieren einer engstirnigen deutschen Biedermeierwelt. Schon die beiden übrigen Refrainverse, die eben unter den Tisch fielen, deuten in eine ganz andere Richtung: „Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg / Ich hab 20 Kinder, meine Frau ist schön.“ Wenn ich mich nicht irre, wachsen Orangenbäume kaum in Deutschland, sondern in südlichen Ländern wie Portugal, Spanien und Italien oder noch viel weiter weg, auf anderen Kontinenten; und die 20 Kinder aus den Song-Lyrics stehen in deutlichem Kontrast zu der Idylle „mit der eigenen Familie, den (beiden) Kindern und dem Hund“, die die rheingold-Studie so betont. 20 Kinder, das klingt eher nach einem kleinen zufriedenen Karibik-Macho, einem „Sugardaddy“, der sich irgendwo am Strand faul die Sonne auf den Pelz scheinen lässt und endlos seine Frau beglückt, die ihm im Gegenzug zig Kinder schenkt und den Haushalt schmeißt.

Wer genauer hinhört, entdeckt in Haus am See ein Ich, das sich aus einer beengten, traurigen, perspektivlosen Situation heraus ganz weit wegträumt. „Hier bin ich gebor’n und laufe durch die Straßen“, so skizzieren die ersten Verse den tristen Alltag, „Kenn’ die Gesichter, jedes Haus und jeden Laden. / Ich muss mal weg, kenn jede Taube hier beim Namen. / Daumen raus, ich warte auf ’ne schicke Frau mit schnellem Wagen.“ Das klingt nach vielem, nur nicht nach Kontrolliertheit und Vernunft, nach Zielstrebigkeit, Anpassungsbereitschaft, Pflichtbewusstsein und was die rheingold-Studie der Jugend 2010 sonst noch bescheinigt. Das Ich will viel eher raus aus seinem tristen Leben, alle Zwänge und Ängste hinter sich lassen, einfach etwas Aufregendes erfahren: „Die Sonne blendet, alles fliegt vorbei / Und die Welt hinter mir wird langsam klein. / Doch die Welt vor mir ist für mich gemacht! / Ich weiß, sie wartet und ich hol sie ab! / Ich hab den Tag auf meiner Seite, ich hab Rückenwind! / Ein Frauenchor am Straßenrand, der für mich singt! / Ich lehne mich zurück und guck ins tiefe Blau, / schließ’ die Augen und lauf einfach geradeaus.“ Das Ich pfeift also auf eine mögliche Karriere und tut dabei genau das Gegenteil von dem, was die rheingold-Studie konstatiert: „Die Lebensentwürfe der jungen Menschen sind von klaren und vor allem erreichbaren Zielen bestimmt.“

In den nächsten Versen konkretisiert der Sprecher seine Vorstellungen – und verliert sich in überbordenden, völlig unerreichbaren Fantasien. Er will jede Menge Abenteuer erleben, unermesslichen Reichtum erlangen und am Ende eines auch an sinnlichen Erfahrungen reichen Weges an einem paradiesischen Ort zur Ruhe kommen. Es geht um Freiheit und Ungebundenheit, ums Entdecken, um Glücksspiel und Schatzsuche, um Abenteuer mit Frauen in möglichst exotischen Umgebungen, kurz: um ein illusorisches, märchenhaftes Leben und eine übermenschliche Heldenidentität irgendwo zwischen Indiana Jones und James Bond: „Ich suche neues Land mit unbekannten Straßen, / Fremde Gesichter und keiner kennt mein’n Namen! / Alles gewinnen beim Spiel mit gezinkten Karten. / Alles verlieren, Gott hat einen harten linken Haken. / Ich grabe Schätze aus in Schnee und Sand, / Und Frauen rauben mir jeden Verstand! / Doch irgendwann werd ich vom Glück verfolgt / Und komm zurück mit beiden Taschen voll Gold.“

Auch was das Ich für den Fall seiner ruhmreichen Heimkehr fantasiert, hat wenig mit deutschem Biedermeier zu tun. Statt eines gemütlichen Kaffeeekränzchens muss eine rauschhafte Feier im Kreise einer Großfamilie her, wie man sie klischeehaft eher in südlichen Ländern oder eben in der Karibik erwartet: „Ich lad’ die alten Vögel und Verwandten ein. / Und alle fang’n vor Freude an zu wein’n. / Wir grillen, die Mamas kochen, und wir saufen Schnaps. / Und feiern eine Woche jede Nacht.“ Am Ende des Songs offenbart sich die ganze Tragik des Ichs. Seine Träume ufern immer weiter aus – nun spielen schon 100 Enkel exotische Spiele auf dem Rasen –, doch es hat noch nicht einmal den ersten Schritt aus seiner traurigen Gegenwart heraus gemacht. Und es wird diesen ersten Schritt wohl auch niemals tun: „Hier bin ich gebor’n, hier werd ich begraben. / Hab taube Ohr’n, ’nen weißen Bart und sitz im Garten. / Meine 100 Enkel spielen Cricket auf’m Rasen. / Wenn ich so daran denke, kann ich’s eigentlich kaum erwarten.“ Angesichts der unglaublichen Abenteuer, die vorher ausgemalt wurden, klingt der letzte Vers reichlich bitter. Haus am See ist eine Aussteigerfantasie. Nicht die eines ausgebrannten Karrieristen, sondern die eines armen Schluckers, der überhaupt keine Perspektiven hat. Und der, auch das kann man in die letzten Verse hineininterpretieren, vielleicht längst ein ergrauter alter Mann ist, dem allmählich die Sinne schwinden. Dass der Sprecher weder seine Träume verwirklichen noch zielstrebig eine Biedermeierwelt mit Haus und Garten, Auto, zwei Kindern und Hund erreichen wird, unterstreicht auch das zu Haus am See gedrehte Video: Dort sitzt der Protagonist am Ende tatsächlich an einem See und angelt. Doch er trägt abgerissene Klamotten, ist unrasiert. Und: Er angelt ganz allein. Die vielbeschworene Behausung, die im Hintergrund zu sehen ist, erweist sich als ein armseliger Holzverschlag.

Es ist schon erstaunlich, wie nonchalant, in einem schnell dahingeworfenen Satz, Wissenschaftler einen unschuldigen Song für ihre Thesen vereinnahmen – ohne offenbar genauer in das Stück hineingehocht zu haben. Dabei sollten doch gerade Psychologen aufs Hineinhorchen geeicht sein. Hier scheinen der plakative Titel Haus am See und ein paar aufgeschnappte Verse gereicht zu haben, um – schwups! – einen „echt coolen“ Bezug zwischen Song und Studie herzustellen. So wird das Song-Haus zum interpretatorischen Spukhaus. „rheingold zählt zu den renommiertesten Adressen der qualitativ-psychologischen Wirkungsforschung“, heißt es in der oben erwähnten Pressemitteilung. Auf die Durchführung von Jugendstudien mag das zutreffen. Am Songverstehen müssen die Verantwortlichen aber noch ein bisschen arbeiten.

Rihanna: Liebe, maskiert

Wer spricht im Song? Glaubt man einigen Kritikern, dann spricht auf Rihannas überraschend interessantem neuem Album Unapologetical niemand anders als die Künstlerin selbst – etwa über die schmerzhafte Beziehung zu ihrem Ex Chris Brown. Brown ist der Schwachkopf, der seine damalige Freundin 2009 krankenhausreif prügelte. Seit Monaten sieht man die beiden wieder öfter zusammen, Brown singt auf Unapologetical sogar ein Duett mit Rihanna. Da muss doch „alles autobiografisch“ sein!

„Der Longplayer hat es in sich“, schreibt etwa Sabine Metzger für das Portal msn unterhaltung, „Die 24-Jährige verarbeitet hier ihre verkorkste, gewaltbelastete Beziehung mit dem Sängerkollegen Chris Brown ganz offen (…) In ‚No Love Allowed’ erzählt sie zu relaxtem Reggae-Beat und harmlos-verspielter Melodie ziemlich unverblümt von den Misshandlungen, die sie erlebt hat: ‚I was flying til you knocked me to the floor’ (‚Ich flog, bis du mich zu Boden geschlagen hast’).“

Andreas Borcholte schlägt für SPIEGEL Online in dieselbe Kerbe: „Für alle, die den Kopf schütteln über die Frau, die zu ihrem Schläger zurückkehrt, hat Rihanna mit ‚Nobody’s Business’ eine fröhliche Uptempo-Nummer parat, die sie – bam! – mit Chris Brown im Duett singt: ‚You’ll always be my boy, sing it to the world’. Vergeben und vergessen ist jedoch nicht alles, daher rührt wohl der nüchterne Tonfall, der viele ihrer neuen Lieder durchzieht: ‚Your love hit me to the core/ I was fine til you knocked me to the floor’, singt Rihanna in ‚No Love Allowed’, ‚I pray that love don’t hit twice’ heißt es in ‚Love Without Tragedy’.“

Ich meine: Nix „bam!„, nix „hat es in sich“, sondern – zoingggg! – alles Quatsch! Browns Prügelattacke ist doch bald vier Jahre her, und es wurde  – gähn! – schon früheren Rihanna-Songs ein Aufarbeitungsimpuls nachgesagt. Tatsächlich kokettiert die Sängerin hier nur, und zwar mittels handelsüblicher R&B-Lyrics-Klischess. Das Song-Ich ist nicht Rihanna, sondern ein „Gebrauchs-Ich“ – und der Rest ist Standardmetaphorik.

http://www.vevo.com/watch/keri-hilson/knock-you-down/USUV70900883

„Du haust mich um“, das ist selbst im Deutschen eine gängige Formel fürs Verliebtsein, ebenso wie „Das hat mich völlig umgehauen“ eine echte „Niedergeschlagenheit“ bedeuten kann, zum Beispiel wegen einer Trennung. Im modernen R&B-Song wird das teilweise noch drastischer ausgedrückt – da werden aus Amors Pfeilen schon mal Pistolenkugeln. Die von Borcholte auf SPIEGEL Online zitierte Textzeile lautet vollständig: „Like a bullet your love hit me to the core / I was flying ‚til you knocked me to the floor.“ In Knock You Down, einem Song von Keri Hilson und den Rappern Kanye West und Ne-Yo, lässt Ne-Yo seinen Sprecher in ähnlichen Bildern von einer tollen Frau berichten, die ihn mit ihrer Liebe vom Himmel geschossen und seinem bisherigen Leben ein Ende gemacht habe: „Oooh, she shot me out the sky (…) she shot the bullet that ended that life.“ Kanye West, der offenbar den Nebenbuhler verkörpert, packt dessen Eifersucht und Hass in die Worte: „Keep rockin’, and keep knockin’ (…) You see the hate, that they’re servin on a platter“. Und Keri Hilson, als hin und her gerissenes Objekt der Begierde, erinnert sich an die erste Begegnung mit einem der beiden: „And you came in and knocked me on my face“, wohl kaum im Prügelsinn, sondern eher à la: „Du fielst mir sofort ins Auge…“ Später heißt es: „Boy, you came around and you knocked me down“, also  „Du bist aufgetaucht und hast mich umgehau’n.“ Der Refrain schließlich formuliert im Hinblick aufs Verliebtsein, aber auch mit Bezug auf Liebesqualen: „Sometimes love comes around, and it knocks you down…“ – „Manchmal packt dich die Liebe, und du bist total am Boden.“

Solche Verse sind R&B-Standard. Verarbeiten also viele R&B-Stars schlimmste Erfahrungen mit häuslicher Gewalt? Sind das alles Bekannte von Chris Brown? Nö. Viel eher verpacken sie die Aufs und Abs der Liebe, den vielzitierten Kampf der Geschlechter, in die immerselben drastischen Bilder.

Zwei der wenigen Songs, die TATSÄCHLICH häusliche Gewalt thematisieren KÖNNTEN, finden sich ausgerechnet bei den nur scheinbar so lieblichen Cardigans aus Schweden: And Then You Kissed Me aus dem Jahr 2003 und And Then You Kissed Me II von 2005. Auch hier wird die Liebe als unerklärliche romantische Macht, als „powerful force“, beschrieben, die einen umhaut; aber da sind auch Formulierungen wie „halo around my eyes“ („Veilchen um meine Augen“), „black and blue“ (deutsche Entsprechung: „grün und blau“), „You hit me really hard“ („Du hast wirklich fest zugeschlagen“) in Teil 1 und „It’s a mystery how people behave! / How we long for a life as a slave“ („Es ist unerklärlich, warum sich Menschen so verhalten! / Warum wir uns nach einem Leben in Sklaverei sehnen“) oder „It’s always you, the hardest hitter that I ever knew“ („Es geht für mich immer um Dich, den härtesten Schläger, den ich bisher gekannt habe“) in Teil 2. Solche Worte lassen schon eher darauf schließen, dass Schlimmeres als bei Keri Hilson und Rihanna zur Sprache kommt: eine verhängnisvolle Paardynamik, eine Frau, die von ihrem schlagenden Mann nicht loskommt. Cardigans-Sängerin Nina Persson hat laut Songfacts.com die „Häusliche Gewalt“-Ebene in den Songs bestätigt und gleichzeitig eingeräumt, dass sie selbst von so etwas glücklicherweise noch nie betroffen gewesen sei.

Bleibt das Duett Nobody’s Business, das Rihanna auf Unapologetical gemeinsam mit Chris Brown singt. Klar, man demonstriert, dass man wieder aufeinander zugekommen ist, sogar gemeinsam Musik macht. Aber präsentiert Rihanna auf demselben Album nicht auch Duette mit Eminem, David Guetta oder Mikky Ekko? Solche Duette gehören ebenfalls zum R&B-Business. In Nobody’s Business schmachtet sich ein Liebespaar mit denselben Worten gegenseitig an. Es geht im hiphoptypischen Prahl- und Statussymboleerwähn-Stil um gemeinsame Autofahrten in Nobelkarossen („Let’s make out in this Lexus“), um nicht weniger als die perfekte Liebe und darum, dass man sich gegenseitig den Weg weist („Your love is perfection, please point me in the right direction“). Im übrigen gehe diese Liebe niemanden etwas an, so der Refrain, sie sei eben „nobody’s business“. Sollen die anderen doch reden – denkt sich das nicht jedes Liebespaar? Intensive Nabelschau? Keine Anzeichen. Daran würde auch eine wirkliche neu entflammte Beziehung der beiden Interpreten nichts ändern.

Wer hier unbedingt nach versteckten Hinweisen suchen will, den könnte noch folgende unauffällige Songzeile aus Nobody’s Business interessieren: „A life with you I want, I wonder can we become love’s persona“ – „Ich will ein Leben mit Dir, und ich frage mich, ob wir beide vielleicht die Rolle/Maske der Liebe sein können.“ Ist das ein verunglücktes Sinnbild für: „Wir stehen für die Liebe“? Oder tut hier vielleicht die Liebe nur so, als sei sie das Paar aus dem Song, als sei sie gar Rihanna & Chris Brown? Wenn die Liebe aber nur eine Make trägt, dann nimmt sie das Publikum gewaltig auf den Arm…