LouLou-Maschinen-Musik: Lou Reed und der Warhol-Faktor

„Hast du was zu Lou Reed?“, fragt Faust-Kultur, „hier müssen wir uns was einfallen lassen.“ Auch wenn sich Faust-Kultur nicht unbedingt als Nachrufplattform versteht: Bei Lou Reed läuten sofort die Pflichtglocken. Da muss was geschrieben werden. War eben ein ganz Großer. Und ein Wichtiger. Das Problem: In den wenigen Tagen seit Reeds Tod am 27. Oktober sind schon so viele alles sagende Nachrufe erschienen, dass ein weiterer Nachruf fast schon peinlich wirken würde: Schwere Kindheit mit Elektroschockerfahrungen, frühe Begeisterung für Doo-Wop-Musik und Literaturstudium bei dem Schriftsteller Delmore Schwartz; musikalische Anfänge als Auftragssongschreiber, wegweisende Platten mit The Velvet Underground im Umfeld von Pop-Art-Papst Andy Warhol, darunter die berühmte mit der „schälbaren“ Banane auf dem Cover; die thematischen Vorliebe für Stricher, Drogensüchtige und Freaks, das Spiel mit androgynen, schwulen Images, gipfelnd in Glam-Rock mit David Bowie; die unhörbare Feedback-Orgie Metal Machine Music – heute bei „Wire“ eine der „100 Records That Set The World On Fire (While No One Was Listening)“; düstere Alben über New York und Berlin, Ehe mit der Performance-Künstlerin Laurie Anderson, dazu seltsame künstlerische Projekte und Kollaborationen wie die mit Theaterguru Robert Wilson (Vertonung von Edgar-Allen-Poe-Gedichten und das Musical „Time Rocker“) oder die mit der Band Metallica (CD „Lulu“ nach Frank Wedekind, die nachträgliche Aufnahme der Musik zu einer weiteren Robert-Wilson-Inszenierung) – all das ist gut abgehangener Stoff der Rock- und Popgeschichte, immer wieder blumig aufbereitet und stets ergänzt durch den Hinweis, was für ein Arschloch Lou Reed doch sein konnte, nicht nur gegenüber Vertretern des Establishments, sondern auch gegenüber Fans und vor allem gegenüber Musikjournalisten.

Lou Reed „war wahrscheinlich nicht der sympathischste Rockmusiker, dafür aber einer der größten und dazu geistig kühnsten unserer Zeit“ („FAZ“), ein „muffiger Existenzialist“, ein „Grantler und Griesgram in fröhlichen Zeiten“ („Rolling Stone“), der „Avantrock-König“ (Amazon), ein „teuflischer Rock-Poet“, sein Werk „ein großes, dunkles Geheimnis“ (Die Welt“), die Essenz einer „großen Poesie der schlechten Laune“ („Süddeutsche Zeitung“). Ich möchte hier ganz bestimmt keinen Nachruf abliefern, aber ergänzen: Lou Reed war ein Antistar – eine Berühmtheit, die es immer wieder prächtig verstand, es sich mit allen zu verscherzen, eine garstige Ikone, die nicht auf den größtmöglichen Umsatz, sondern auf die größtmögliche Irritation abzielte. Auf einen gefälligen Hit folgte schwer Verdauliches, auf hintergründige Interviewfragen folgten bewusst nichtssagende Antworten, und wo man prominente Duettpartner für Songs mit Top-Ten-Garantie hätte gewinnen können, wurde lieber eine Kopfschütteln verursachende interdisziplinäre Kunst-Kollaboration gewählt. Reed-Arbeiten waren nie nur Rock, sondern Rock war bei ihm stets eine Ausdrucksform unter mehreren, Teil eines größeren Ganzen. Das zeigte sich bereits in den 1960er Jahren bei Andy Warhols verstörenden Multimedia-Shows unter dem Motto „The Exploding Plastic Inevitable“, in die die Auftritte von The Velvet Underground integriert waren. Lou Reed war ein Meister des ambivalenten Songwritings – bei vielen seiner Stücke weiß man nicht, ob sie etwas Abgründiges als tragisch beweinen oder etwas Tragisches als abgründig idealisieren, ob sie wirklich zärtlich sind oder unterschwellig zynisch, ernst gemeint oder getragen von bitterer Ironie. In Venus in Furs, Take A Walk on the Wild Side oder Perfect Day kann man noch heute vieles Unterschiedliches hineininterpretieren, ohne wirklich falsch zu liegen. Ein Rockkonventionen unterlaufender Vortragsstil, das ständige Changieren zwischen Singsang, Rezitation und Brabbeln, hält dabei das Publikum auf Distanz.

Und: Lou Reed scheint mir bis zum Schluss nie ganz von der Pop Art Warhol’scher Prägung losgekommen zu sein. Andy Warhol, der den Satz „Ich will eine Maschine sein“ formulierte, um das Künstliche der Kunst hervorzuheben, sie von der Abstraktion und all dem „Innerlichkeitskram“ zu befreien; Andy Warhol, der im Zeitalter der Massenmedien erkannte, dass praktisch jeder Mensch seine „15 Minuten Ruhm“ erlangen kann, wenn er nur an die Öffentlichkeit geht und sich zum Star erklärt; Andy Warhol, der mit seinen Siebdruckwerken das Verständnis von einem „Originalkunstwerk“ entwertete oder zumindest veränderte; und Andy Warhol, der mit seinen provokante „Unbewegte Kamera“-Streifen das Medium Film und seine Ausdrucksmöglichkeiten bewusst unterlief. Multimediale Variationen der reinen Oberfläche. So klingt in Lou Reeds Feedback-Album Metal Machine Music nicht nur Warhols Ausspruch „Ich will eine Maschine sein“ wider – die vier viertelstündigen Tracks wirken auch wie akustische Entsprechungen zu den Warhol-Filmen Sleep und Empire, die stundenlang einen schlafenden Mann bzw. das Empire State Building zeigen und höchstens durch einen Schnitt, eine kleine Bewegung oder wechselnde Lichtverhältnisse für so etwas wie Spannung sorgen: Analog präsentiert Reed langgezogene Gitarrenfeedbacks, quasi eingefrorene Rockmomente, die sämtliche Ausdrucksmöglichkeiten des Rock-Songwritings unterlaufen und ihre Dramaturgie, wenn es überhaupt eine gibt, einzig aus dem Oszillieren des Sounds entwickeln. Weder die Filme noch die LP muss, geschweige denn kann man durchgängig goutieren, sie müssen aber als Beleg existieren und archiviert sein.

In Lou Reeds Konzentration auf das Abgründige klingen wiederum Warhols Siebdrucke nach, die mit Variationen des Immergleichen arbeiteten und deren irritierende Motive nicht nur Konsumgüter und Glamour-Stars, sondern auch Autounfälle und elektrische Stühle beinhalteten. Auch Reed produzierte gewissermaßen Stricher-, Drogen-, Transsexuellen-Dramen in Serie, und was für Berlin (1973) galt, ließ sich auch für New York (Coney Island Baby, 1975; New York, 1989; Hudson River Wind Meditations, 2007) wiederholen, wobei die „Windmeditationen“ den Metal Machine Music-Ansatz um den etwas neueren Ambient-Music-Gedanken erweitern. Dass Lou Reed sich selbst als Star inszenierte, ist ebenso unbestritten wie sein ständiges Bemühen, diese Starrolle, die Mechanismen des Startums und die Gesetze der Medienwelt zu unterlaufen. An die Stelle des „Stars“ trat dann bei ihm zunehmend das „Ego“, dass er gnadenlos in den Vordergrund rückte. „Ich bin Künstler, und das heißt, dass ich so egoistisch sein kann, wie ich will“, wird er auf SPIEGEL Online noch einmal zitiert. Mehrmals behauptete Reed, seine Alben ergäben zusammengenommen den „Großen amerikanischen Roman“. Das wirkt einerseits wie eine tragische Selbstüberschätzung – andererseits ist es eine weitere Entsprechung zum Warhol’schen Ansatz, ein paar schillernde Nobodys aus seiner „Factory“ kurzerhand zu „Superstars“ zu erklären. Und es würde mich nicht wundern, wenn einmal eine Tagebuchnotiz offenbarte, Reed habe das Lulu-Album mit Metallica nur deshalb gemacht, weil der Titel wie sein seriell gedoppelter Vorname, sein potenziertes Ego klingt und der Bandname Metallica noch mal hübsch an sein verkanntes Frühwerk Metal Machine Music erinnert.

Natürlich hat Lou Reed einige tolle, bewegende, interessante Songs in die Welt gesetzt. Doch bei allen Feinheiten dieses Songwritings kann man boshaft in den Raum stellen, dass andere seiner Produktionen unfertig, unverständlich daherkamen und manche seiner Arbeiten für eine überkommene Kunst im alten Warhol’schen Sinne stehen, die sich immer wieder selbst reproduziert. Das Künstler-Ego scheint nur ab und zu etwas nachlegen zu müssen – das wird zwar den meisten Menschen überhaupt nicht gefallen, andererseits findet sich immer ein beflissener Fan oder Kritiker, der dem aktuellen Erguss einen Hauch von Genialität bescheinigt. Ein bisschen Rock, ein bisschen Pop-Art und Konzeptkunst, gewürzt mit einer Prise Publikumsbeschimpfung, dazu das Changieren zwischen Tiefgang und Herumwerkeln an der Oberfläche: ein interessanter Ansatz, der deutlich über das, was Durchschnittsrocker machen, hinausgeht – der aber nicht wirklich rund oder konsequent wirkt und auch vor zehn, zwanzig Jahren schon Schnee von vorgestern war. Als kreativer Eigenbrötler und Egomane, der immer wieder auch Kunst ablieferte, die man weder goutieren konnte noch musste, wirkte Reed schon länger aus der Zeit gefallen und, seien wir ehrlich, nicht nur anstrengend, sondern auch ein bisschen langweilig.

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