Peter Doherty: Der letzte Bohèmianer

Endlich mal wieder ein Kinoereignis, das polarisiert. Die Rede ist von Confession, Sylvie Verheydes Verfilmung des 1836 erschienenen Romans Confession d’un enfant du siècle von Alfred de Musset. Der melancholische Streifen, der streckenweise an ein Musikvideo mit Offkommentar denken lässt, fiel bei den Filmfestspielen in Cannes durch und wird vor allem von der britischen Presse verrissen. Doch als leiser Kommentar zur Zeit vermag er bei feinfühligeren Kritikern durchaus zu punkten. So vergab das renommierte Fachblatt „epd Film“ satte vier von fünf Sternen und resümierte: „CONFESSION breitet seine ‚Lose-lose’-Situation so lasziv auf der Leinwand aus wie Brigitte ihre Gewänder. Er ist die melancholische Antithese zur Botschaft der Romantic Comedies mit ihrem ‚Topf trifft Deckel’-Optimismus.“

Brigitte, das ist die attraktive Witwe, in die sich der Held Octave verliebt, als er das ausschweifend zügellose Leben, das er aufgrund einer enttäuschten früheren Liebe geführt hat, hinter sich lassen will. Doch auch die neue Liebe wird zerbrechen, nicht zuletzt an der Eifersucht Octaves. Sein Scheitern begreift dieser materiell abgesicherte Zerrissene als symptomatisch für eine ganze Generation. Im Roman, so verraten Literaturwissenschaftler, verarbeitete Autor Alfred de Musset unter anderem seine leidenschaftliche Affäre mit der sozialkritisch-feministischen Schriftstellerin George Sand. Im Film wiederum lädt Regisseurin Sylvie Verheyde Handlung und Figurenkonstellation mit den Image-Konstrukten auf, die ihr illustres Hauptdarstellergespann umgeben.

Brigitte wird gespielt von Charlotte Gainsbourg, der Tochter von Chansonnier Serge Gainsbourg und Schauspielerin Jane Birkin. Gemeinsam hatten Jane und Serge einst den Skandalsong Je t’aime in die Charts gestöhnt. Tochter Charlotte wurde später bekannt mit provokanten Filmen über Inzest und Dreiecksbeziehungen, im Jahr 2009 schockten sie und ihr Kollege Willem Dafoe in Lars von Triers äußerst drastischem Drama Antichrist. Die große Überraschung in Confession aber ist der britische Songwriter Peter Doherty. Schon wenn er, der sich früher „Pete“ nannte, seinem Vornamen wieder das „R“ hinzufügt, überschlägt sich die Presse angewidert bis verzückt. Der Mittdreißiger (Jahrgang 1979) hat Stil, inspirierte viele junge Briten durch seine extravaganten Anzüge und Hüte und machte jüngst als Designer für das Pariser Kultmodelabel The Kooples Furore. Dandys wie Oscar Wilde gehören zu seinen illustren Vorbildern. Aber Doherty verschreckt auch durch die Zuschaustellung seelischer Abgründe. Da gibt es jahrelange Drogenexzesse, seltsam abwesend-fahrige Interviews und irritierende Kunstwerke, mit dem eigenen drogenverseuchten Blut gemalt. Da kursieren Geschichten über wilde WGs und Einbrüche in die Wohnung von Freunden, die an die Eklats französischer Schriftstellergenies des 19. Jahrhunderts erinnern. Doherty hat zwei uneheliche Kinder und geriet regelmäßig durch vertrackte On-and-off-Affären in die Schlagzeilen, unter anderem mit Supermodel Kate Moss und – wie noch gar nicht allzu lang bekannt ist – mit der 2011 an einer Alkoholvergiftung gestorbenen Sängerin Amy Winehouse.

Dieser Typus des genialisch-kaputten Rockstars, der sich als Libertin und Teil einer Bohème inszeniert, ausschweifend lebt und dabei gern mal Arthur Rimbaud oder Paul Verlaine zitiert, galt eigentlich als ausgestorben, erst recht in Zeiten der Globalisierung und der konsequent durchgeplanten Markenstrategien, auch im Musikgeschäft. Seine „besten Jahre“ hatte diese merkwürdige Spezies in den 1960ern mit Jagger/Richards, Faithfull, Morrison, Hendrix & Co. Sid Vicious, Tom Verlaine & Richard Hell oder auch Patti Smith sorgten 20 Jahre später für eine Wiederbelebung unter veränderten Vorzeichen. Hip-Hop, Britpop, Dance und Techno verwischten die Spuren fast vollends, bis 2002 Doherty und sein annähernd exzentrischer Kumpel Carl Barât mit ihrer Band The Libertines für frischen Wind in der britischen Popszene sorgten. Die Libertines, der Name war Programm, brachten nur zwei Alben zustande, auch weil Freigeist Doherty mehr durch Verhaftungen und Entzugseskapaden als durch Teamgeist glänzte. Schrammelig und krachig, teilweise skizzenhaft klingen diese Alben und sind gleichzeitig eingängig, melodisch, mit Anleihen bei Beat, Folk- und Pubrock. Zwei weitere Alben und die EP The Blinding spielte Doherty ab 2004 mit seiner Band Babyshambles ein, und diese Arbeiten zeugen von einem deutlichen musikalischen Reifungsprozess. Was teilweise nachlässig dahingeworfen und -genölt wirkt, entpuppt sich bei mehrmaligem Hören als harmonisch raffinierter, stilistisch vielfältiger, einfach gefühlvoll. Die Babyshambles-Veröffentlichungen weisen bereits auf das 2009 erschienenen Doherty-Soloalbum Grace/Wastelands voraus, das zu Recht fast durchweg begeisterte Kritiken erhielt.

Doherty ist alles andere als ein Virtuose, aber er entlockt seiner Gitarre einen unter die Haut gehenden Sound. Dazu berührt er mit einer ebenso energischen wie zerbrechlich-zärtlichen Stimme, egal ob er den Ton trifft oder nicht. Die Texte handeln mal nostalgisch von einem idealisierten England („Albion“) und einem paradiesischen Arkadien, mal geben sie sich selbstironisch frankophil (La belle et la bete) oder zitieren spielerisch Klassiker der Dekadenzliteratur (A rebours). Meist aber sind sie schwer zugänglich, was auch ihrer Entstehung unter Drogeneinfluss geschuldet sein mag. Selten ist hier klar, wer „ich“ ist und wer „du“, es werden names gedropt und irgendwelche Begebenheiten zitiert, deren Spuren sich manchmal in veröffentlichte Tagebücher und Schreibversuche zurückverfolgen lassen. So sind es weniger ganze Songs, die im Gedächtnis haften bleiben, als herausstechende einzelne Strophen und Verse:  

Oh my words in your mouth / Are mumbled all about / You’re like a journalist / How you can cut and paste and twist / You’re awful (…) Jack drinks and smokes his cares away /
His heart is in the lonely way / Living in the ruins / Of a castle built on sand    (The Libertines, Tell It to the King)

I said you can have my love for this song go right / But don’t hold it up to the light / Oh loveless, my loveless love    (The Libertines, Anything But Love)

You and I and me and you / What became of the love we knew? / What became of the work class? / Nike, Reebok, Adidas…    (The Libertines, Hooray for the 21st Century)

Happy endings, they still don’t bore me / They, they have a way / A way to make you pay / And to make you toe the line / Though I sever my ties / Because I’m so clever / But clever ain’t wise (…) So what’s the use between death and glory? / I can’t tell between death and glory / New Labour and Tory / Purgatory and happy families    (Babyshambles, Fuck Forever)

Given up trying to explain / I’ll just put it in a song instead    (Babyshambles, Carry on Up the Morning)

Oh, you, you’ll soon be up where you belong / But it’s only blood from broken hearts that writes the words to every song    (Babyshambles, I Love You (But You’re Green))

Now tell me, if darkness comes / Then I will sing you a song / And I will love you forever / At least ‚til morning comes    (Pete Doherty, Lady, Don’t Fall Backwards)

Nur eins scheint klar: Gelingende, andauernde (Liebes-)Beziehungen gibt es in Dohertys Songs nicht. Entweder bleibt Liebe, Zusammensein ein unerfülltes Sehnen, oder die Beteiligten machen sich nach wenigen Glücksmomenten gegenseitig das Leben schwer. Wenn überhaupt, dann hat der eben zitierte Song Fuck Forever so etwas wie programmatischen Charakter: Er drückt Skepsis gegenüber dem Glück aus – verbunden mit der Befürchtung, dass man für jedes Happy End bezahlen muss. Etwas, das genauso für das Meiden von Bindungen gilt. Eine verdammte Zwickmühle. Fast schon defätistisch-nihilistisch mutet das Abstreiten jeglicher Unterschiede zwischen New Labour und den Tories, zwischen glücklichen Familien und dem Fegefeuer an.

Dieses Leiden an der Welt und am menschlichen Miteinander scheint Doherty für die Rolle des unglücklich liebenden Octave in Sylvie Verheydes Confession geradwegs zu prädestinieren. Klar, dass dieser ständig am Abgrund taumelnde Suchende auch Musik zum Film beigesteuert hat. Zum Beispiel den Song Birdcage, den er gemeinsam mit Suzi Martin singt. Das Besondere: Die Lyrics stammen aus dem Nachlass von Amy Winehouse, die hier und da etwas Bohèmehaftes versprüht haben mag, am Ende aber nur noch ein bemitleidenswertes Wrack war. In Birdcage hat sie das Thema der Amour fou auf einen weiteren schönen Zweizeiler gebracht: „We could never be together / I’m too pretty, you’re too clever.“

Einst empfahl sich David Bowie mit seiner Aura des Rockstars vom anderen Stern für Kunstfilme wie Der Mann, der vom Himmel fiel und Horrorfantasien wie Begierde. Sting kultivierte seinen exotischen Stachelpunk-Look als Über-Mod in Quadrophenia oder als Weltraumfiesling im Science-Fiction-Klassiker Dune, und der bodenständige Country-Songwriter Kris Kristofferson füllte als sensibler Tough Guy verschiedenste Charakterrollen aus, zum Beispiel im Westernepos Heaven’s Gate. Kristofferson, Sting oder Bowie mögen die besseren Schauspieler sein, aber auch Dohertys bohèmegefärbter Popstar-Imagetransfer wird genügend Fans ins Kino locken – allen Kritikern zum Trotz, die den Songwriter als dramatisch untalentierten Darsteller brandmarken und mit seinem Aus-der-Zeit-gefallen-Sein nichts anfangen können.

Ja, ja, womöglich sollte man von Peter Doherty keinen Gerauchtwagen kaufen. Auch hat manches von dem, was er tut, etwas Naives, Kokettes, und die Bedeutung seines Beitrags für die Rockmusik ist längst nicht endgültig geklärt. Aber: Mit seinem unkonventionellen Lebenswandel, seinen eigenwilligen Songs und seinen unberechenbaren künstlerischen Moves steht dieser Unvollendete auf spannende Weise im Widerspruch zur vermeintlichen heilen Welt vieler Stars und Sternchen. Er liegt quer zu den gnadenlos durchstrukturierten Powerkarrieren von Rihanna & Co und zu seelenlos-businessorientierten Castingshow-Formaten, von bürgerlichen Normen ganz zu schweigen. Ein gefallener Engel kurz bevor der Himmel einzustürzen droht. Vielleicht sagen das Phänomen Pete Doherty und der Film Confession ja doch etwas über unsere aus den Fugen geratene Zeit. Schaut man sich im Videoclip an, wie selbstgefällig-süffisant und kulturbeflissen arrogant drei saturierte Filmkritiker des britischen „Guardian“ über Confession und vor allem über Peter Doherty herziehen, dann kann man ein wenig nachvollziehen, an welchen gesellschaftlichen Strukturen dieser letzte Bohèmianer unter anderem leidet.

Link zur „Guardian“-Videokritik: http://www.guardian.co.uk/film/video/2012/dec/07/confession-of-a-child-of-the-century-video-review

Kinostart Confession: 20. Juni

 

 

Bei meiner Seele – warum muss nun auch noch Xavier Naidoo den Ärzte-Song „Junge“ covern?

Herrgott noch mal, was ist bloß in Xavier Naidoo gefahren? Hat sich neulich erst mit Kool Savas und dem völlig verunglückten Kindermörderrächersong Song Wo sind sie? fast ins Abseits gesungen – und unterzieht nun auf seinem neuen Album, das den salbungsvollen Titel Bei meiner Seele trägt, ausgerechnet den Ärzte-Song Junge einer unpassend weinerlichen Coverversion. Dabei ist es gerade mal ein Vierteljahr her, dass Heino das größtmögliche Überraschungsmoment und den ultimativen Unverschämtheitsbonus aus diesem Stück herausgeholt hat.

Zur Erinnerung: Junge nimmt spöttisch die Perspektive verständnisloser Eltern ein, die nicht verstehen können, warum ihr Sohn lieber abgerissene Klamotten trägt, laut Musik macht und mit Gleichgesinnten abhängt, anstatt sich fleißig um den Aufbau einer bürgerlichen Existenz zu bemühen: „Guck dir den Dieter an, der hat sogar ein Auto!“ – „Es ist noch nicht zu spät, dich an der Uni einzuschreiben!“ – „Und wie du wieder aussiehst, Löcher in der Nase und ständig dieser Lärm!“ Den Eltern im Song ist es nicht nur wichtig, die Fassade aufrechtzuerhalten („Was soll’n die Nachbarn sagen?“), sie versuchen auch, ihren Jungen emotional zu erpressen: „Willst du, dass wir sterben?“ Eine Einstellung, der vor allem der punkrockige Refrain den Mittelfinger zeigt.

Nun kann man von Heino halten, was man will, aber mit seiner Coverversion von Junge landete der biedere Volksmusikbarde einen echten Coup. Inbrünstig, selbstbewusst, in staatstragender Hoch auf dem gelben Wagen-Manier schmetterte Heino den Song, als wolle er sagen: Euch werd ich’s zeigen, ihr Rotzlöffel! Und wisst ihr was? Die Eltern im Song haben verdammt noch mal recht! „Junge, brich deiner Mutter nicht das Herz!“, das klang so unverschämt anrührend nach Freddy Quinn, dass die Ärzte zumindest einen Moment lang wie kleine dumme Jungs dastanden. Den Song einfach mal frech gegen seine respektlosen Urheber gewendet – da fiel selbst coolsten Musikern und abgebrühtesten Szenejournalisten die Kinnlade runter.

Doch was macht nun Herr Naidoo? Trägt Junge vor, als wolle er das „Wort zum Sonntag“ sprechen. Ersetzt lärmenden Punk und feisten Schlager-Sound durch unpassend nachdenkliche Soulgrooves. Übertüncht jegliche Ironie mit möglichst „einfühlsamem“ mehrstimmigem Schöngesang. Wirft sämtliches Einfühlungsvermögen über Bord und stülpt dem fremden Streich ein wenig selbstverliebt die Marke „Xavier Naidoo auf Sinnsuche“ über. Kurz: Gewinnt dem Original nicht etwa eine unerwartete neue Facette ab, sondern intoniert und arrangiert komplett am Text vorbei. Vielleicht wollte Naidoo den Song, nachdem Heino ihn gewissermaßen geraubt und entweiht hatte, einfach in die Welt des Pop zurückholen. Das wäre aber auch das Einzige, was für diese Coverversion spräche. Ansonsten ist sie einfach überflüssig.